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Neue Leben: Roman (German Edition)

Neue Leben: Roman (German Edition)

Titel: Neue Leben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingo Schulze
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Sonntag morgen sei sie zu Gunda Lapin, ihrer Freundin, der Malerin, nach Laubegast gefahren. Bei ihr habe sie sich bis Montag morgen erholt. In der Poliklinik habe sie sich dann untersuchen und für eine Woche krank schreiben lassen. Wäre sie noch inhaftiert, sagte sie, wüßte niemand, wo sie sei.
    Ihr zuzuhören war eine Qual. Michaela kämpfte mit den Tränen und versuchte, Mutters Hände in ihre zu nehmen. Ich fand das unpassend, weil es Mutter hemmte, und war froh, als Michaela zur Telephonzelle ging, um Thea anzurufen. Doch das Alleinsein mit meiner Mutter ertrug ich noch weniger. Ich schaltete den Fernseher an. Aber weder sie noch ich sahen hin. Wortlos räumten wir den Tisch ab und brachen unser Schweigen auch beim Beziehen ihres Bettes nicht. Mutter ging ins Bad, und ich hörte sie gurgeln und das Wasser ins Becken spucken. Ich saß vor dem ausgeschalteten Fernseher und betrachtete meine Silhouette auf dem Bildschirm. Ich atmete immer tiefer ein, bis das Heben und Senken der Schultern auch bei meinem Spiegelbild deutlich zu sehen war.
    Plötzlich stand meine Mutter in Unterwäsche vor mir und bat mich, sie einzureiben. Ihr Rücken war voller Blutergüsse, sogar auf Schenkel und Waden hatte man sie geschlagen. Sie stützte sich auf den Tisch und krümmte ihren Rücken. Sie roch ein bißchen nach Schweiß. Die wenigsten Ärzte dächten, wenn sie solches Zeug verschrieben, daran, daß alte Menschen meist allein seien und sich gar nicht einreiben könnten, sagte sie. Wir gaben uns einen Gutenachtkuß. Meine Mutter hatte im Bad weder das Licht ausgemacht noch die Zahnpastatube zugeschraubt. Ihr Handtuch lag auf dem Klodeckel.
    Michaela fragte, wonach es rieche, und sagte dann, Thomas habe Thea auch gerade mit Franzbranntwein eingerieben. Das klang irgendwie gemütlich, als sei nun alles überstanden.
    Am Dienstag war das Verlesen der Dresdner Resolution von der Bühne herab nicht mehr zu verhindern. Bis auf Beate Sebastian, die nur mit Zustimmung der Partei an einer solchen Aktion teilnehmen wollte, war das ganze Schauspiel dafür.
    Was die Resolution betraf, teilte ich die Begeisterung der anderen nicht. Als ich vorschlug, eine eigene Resolution zu schreiben,hieß es, das Orchester, die meisten Sänger und das Ballett hätten schon ihr Einverständnis erklärt, sie könnten jetzt nicht wieder von vorn beginnen.
    Der ganze Tonfall war dem Ritual von Kritik und Selbstkritik entlehnt. Hinter jeder Zeile schaue ein besorgter Funktionär hervor, sagte ich. Michaela schüttelte den Kopf, ich täuschte mich. Wir gingen es Zeile für Zeile durch, und ich war selbst überrascht, wie leicht diese pseudorevolutionäre Rhetorik auszuhebeln war. Allein schon der Satz: »Eine Staatsführung, die mit ihrem Volk nicht spricht, ist unglaubwürdig.«
    »Hörst du darin nicht das Winseln des enttäuschten Speichelleckers?« fragte ich. »Wer sagt denn, daß ich mit denen dort überhaupt noch reden will? Wieso denn
Staatsführung
, wenn sie durch Wahlbetrug an die Macht gekommen sind? Und was bedeutet: mit
ihrem
Volk? Warum zitieren sie nicht Brecht: Sollen sie doch
ihr
Volk auflösen und sich ein neues wählen …«
    Michaela gab zu, daß man diese Zeile streichen könne, meinte aber, die Formulierung »Ein Volk, das zur Sprachlosigkeit gezwungen wurde, fängt an, gewalttätig zu werden« sei nicht nur mutig, sondern auch jetzt noch richtig. Warum, fragte ich, schreiben sie nicht: Ein Volk, das seit 28 Jahren eingesperrt und als Staatseigentum behandelt wird, das beim leisesten Widerspruch bestraft und eingeschüchtert wurde, erobert endlich die Straße! Weg mit der Verbrecherbande, die auf wehrlose Menschen einschlägt, sie verhöhnt und foltert?
    Michaela schwieg. »Warum«, fragte ich, »sagen sie nicht einfach: Die Mauer muß weg, weg mit der SED , her mit den Menschenrechten, geht auf die Straßen, habt Mut, laßt euch nicht mehr einschüchtern!«
    »Das geht zu weit«, sagte Michaela, »das stellt ja alles in Frage.«
    »Natürlich«, rief ich, »stellt das alles in Frage! Leipzig stelltalles in Frage, was mit meiner Mutter, was mit Thea passiert ist, stellt alles in Frage. Wir müssen alles in Frage stellen!« Warum sie sich mit dem alten Käse aus der Feder von Apparatschiks zufriedengebe. »›Wir haben die Pflicht‹«, zitierte ich höhnisch, »›von unserer Staats- und Parteiführung zu verlangen, das Vertrauen zur Bevölkerung wiederherzustellen.‹ Ist das nicht widerwärtig? So ein Schlußsatz? Heißt das, bitte

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