Neue Leben: Roman (German Edition)
riefen ihre Zielorte aus und setzten sich wieder ans Steuer.
Paris gab es zweimal. Nachdem wir schon gefürchtet hatten, nicht mehr mitgenommen zu werden, fanden wir dann in der dritten und vierten Reihe Plätze, von denen aus wir sogar durch die Frontscheibe sehen konnten. Neben uns wartete die Fuhre nach Amsterdam, links von uns die nach Venedig. Die Prozedur war überall gleich. Zuerst wurden bundesdeutsche Ausweise verteilt, in denen alles richtig war, bis auf Name und Wohnort. Selbst Größe und Augenfarbe stimmten. An der französischen Grenze, so die Anweisung, sollten wir die Ausweise hochhalten 35 und uns unauffällig verhalten, was immer sie damit meinten. Im Venedig-Bus übten sie das Hochhalten sogar. Als sie anfuhren, winkten sie.
Robert hatte mich zum Nachbarn erkoren, die Sitze waren sehr bequem und der Motor fast nicht zu hören. Kein lautesWort störte den sanften Flug über die dunkle Autobahn. Als würde ich es nicht anders kennen, verließ ich bei jedem Stopp mit den anderen den Bus, beteiligte mich am Wettlauf zur Toilette und stopfte mir bei jeder Rast ein hartgekochtes Ei aus Mamus’ Picknickschachtel in den Mund.
Noch vor Mitternacht stiegen wir am Frankfurter Flughafen aus, der ersten Sehenswürdigkeit der Reise. Wir durchstreiften die hellen menschenleeren Hallen, lasen die Namen der Fluggesellschaften und grüßten die dunkelhäutigen Putzfrauen, die sich daraufhin abwandten.
Die Franzosen interessierten sich nicht für unseren Bus, und auch wir bemerkten Frankreich erst bei der nächsten Pinkel-pause. Mamus schnarchte leise. Müde wurde ich erst, als es dämmerte. Ich sah das Dunkelgrau über den Pariser Vorstädten, und im nächsten Augenblick fuhren wir bereits durch die Stadt. Es nieselte, und der Himmel schien dunkler geworden. Ich brauchte bis zur Place de la Bastille, um zu wissen, wo wir waren. Von dort aus funktionierte mein Orientierungssinn ohne Fehl und Tadel. Ich brillierte vor Robert und Michaela und war dabei selbst überrascht, daß wir über den Boulevard Henri IV fuhren und rechts die Inseln auftauchten und tatsächlich Notre-Dame erschien. 36 Ich betete unser Sehnsuchtsmantra: Quai de la Tournette, Quai de Montebello, Quai St-Michel, Quai des Grands und sah auf die vertrauten Kästen der Bouquinisten.
Während ich gerade noch rechtzeitig den Louvre prophezeite, spürte ich Unbehagen. Ich brannte das Feuerwerk unseres jenseitigen Wissens ab, ohne dabei etwas zu empfinden. Vielleicht hast Du einfach gefehlt, oder ich ahnte, daß es eine Stunde später bereits so profan sein würde wie die Auskunft eines Taxifahrers.Ach, es war schon im selben Moment zum streberhaften Wissen eines Hausvaters verkommen, der den Urlaub gewissenhaft vorbereitet hat!
Wir fuhren über die Pont de la Concorde gen Norden, vorbei an der Madeleine und dem St-Lazare, die Rue de Amsterdam hinauf. Ich vermutete Sacré-Cœur als nächstes Ziel und hoffte, beim ersten Sonnenstrahl und einem Kaffee würde es halbwegs erträglich werden, als der Fahrer bekanntgab, wir befänden uns auf dem Weg zur berühmtesten »Mausefalle« der Welt. Wir bogen zweimal ab, sehr langsam nahmen wir die Kurven, unser Bus schwankte hin und her und wurde auf einmal vorn wie von einer Welle hochgehoben, bevor wir weiterrollten.
Dann sah ich die Frauen, die den Gehsteig säumten, Huren, morgens um acht. Das Gerede im Bus erstarb, der Fahrer schwadronierte über die Käuflichkeit der Liebe. Mitten in seinem Geplapper krachte es unter uns, als wären wir auf Grund gelaufen. Der Fahrer fluchte, und die Lautsprecher verstummten mit einem Knacks. Langsam fuhren wir weiter. Die Stille, in der wir zu den blanken Fenstern hinaussahen, hatte etwas Andächtiges. Diese Ungeheuerlichkeit, sich für ein paar Geldscheine Frauen aussuchen zu können! Robert wandte sich mit einem irren Grinsen nach mir um, zögerte, als wolle er etwas fragen, starrte aber gleich wieder hinaus, die Stirn an der Scheibe.
Plötzlich löste sich eine der Frauen von der Hauswand – ihre hautengen Hosen liefen ab den Waden in einem weiten Schlag aus – und trabte neben uns her. Ein buntes Tuch, in Piratenart um den Kopf geschlungen, verdeckte ihre Haare. Sie näherte sich unserem Fenster, kam dichter heran – sie war blutjung –, küßte ihre eigene Hand und drückte die Fingerkuppen vor Robert an die Scheibe. Selbst als sie rennen mußte, um auf gleicher Höhe zu bleiben, sah sie ernst herein, obwohl die Frauen hinter ihr loslachten, ja sich vor Lachen
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