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Neue Leben: Roman (German Edition)

Neue Leben: Roman (German Edition)

Titel: Neue Leben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingo Schulze
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gern etwas zusammenstellen, Sachen fürs Büro – sie betonen Büro auf der ersten Silbe.
    Wir hatten herrliche Sicht über die Rheinebene bis hin zu irgendwelchen weit entfernten Bergen in Frankreich. Um Offenburg herum sind die Hügel sanft, die meisten Kuppen kahl, die hohen Schwarzwaldgipfel entweder von hier nicht zu sehen oder von Wolken verhüllt.
    Gläsle hatte vor dem Rathaus auf uns gewartet. Kurz darauf gingen uns die Augen über. Am Ende schleppten wir sogar eine elektrische Schreibmaschine davon, die wir das »grüne Ungeheuer« getauft haben.
    Gläsle brachte Georg und Jörg zu einem Gebrauchtwagenhändler – wir wollen uns einen VW -Bus kaufen –, Michaela und ich bummelten durch die Stadt. Und weil wir plötzlich Geld in der Tasche hatten, kauften wir ein – Edelstahltöpfe, wie für eine Trophäensammlung.
    Soviel für diesmal! Seid umarmt, Enrico

 
     
    Montag, 29. 1. 90
     
    Verotschka,
    ich soll Dich von Mamus grüßen. Alle Deine Karten stehen auf dem Küchenbuffet. Sie grollt uns beiden ein bißchen, weil doch die eigenen Kinder nicht lügen sollen. 28 Ich habe ihr Deine Adresse aufgeschrieben. Sie fragte, wie lange Du bleibst und ob es nicht zu gefährlich ist und ob sich Nicolas Mutter wieder besser fühlt.
    Am Wochenende soll es nach Paris gehen. Mamus fühlt sich wie die persönliche Abgesandte des Glücks. Sie hat ihr Konto geplündert, will es nicht zugeben, kokettiert jedoch damit.
    Obwohl wir, ich hatte Robert mitgenommen, erst gestern in Dresden gewesen sind, geistern die Stunden irgendwie ortlos durch meine Erinnerung, als hätte ich nur davon geträumt. Mamus hatte Käsekuchen gebacken. Aber die Wohnung war kalt und so aufgeräumt, daß sie beinahe unbenutzt wirkte.
    Erst in ihren vier Wänden merkt man, wie sehr sich Mamus verändert hat. Ich war froh über jede Geste, die ich kannte, wie sie den Herd anmacht und in die Knie geht, um die Flamme zu überprüfen, wie sie auf der Schwelle der Speisekammer stehenbleibt, als wäre es einfacher, sich zu strecken, als einen weiteren Schritt zu machen, ihr auf dem Absatz gedrehter Fuß, mit dem sie die Tür des Kühlschranks schließt, wie sie die Kaffeetasse zwischen beiden Händen hält, die Ellbogen auf dem Tisch. In einem Tonfall, als biete sie mir Kondensmilch an, fragte sie, ob wir auch die »Allianz für Deutschland« 29 wählen würden. Plötzlichmacht Mamus überall den Untertanengeist aus und entdeckt den »grenzenlosen Opportunismus« ihrer Kolleginnen. Ich fragte sie, warum sie dann nie an Ausreise gedacht habe. Ich hätte das doch nicht gewollt, erwiderte sie, ohne mich anzusehen.
    Die Situation in der Klinik ist unverändert. Wenn sie Pech hat und gemeinsam mit ihren »Peinigerinnen« – und zu denen zählen wohl die meisten OP -Schwestern – zum Dienst eingeteilt ist, spricht sie manchmal den ganzen Tag nicht.
    Für Robert ist Mamus zur zweiten Großmutter geworden, was ihr sichtlich guttut. Auch ich fühle mich jedesmal von neuem ausgezeichnet, wenn Robert mich begleitet. Allerdings fürchte ich immer, ihn zu langweilen. Dieses Mal hätte ich vielleicht ohne ihn fahren sollen, aber allein hätte es so etwas Bedeutungsvolles bekommen, als drängte ich auf eine Aussprache. Gelegenheit dazu hätte es sowieso kaum gegeben, denn ständig klingelte jemand an der Wohnungstür. Vielleicht ist ja Mamus’ Wandlung eher die Regel. Allerorten scheint man sich gerade zu entpuppen. Wußtest Du, daß Herr Rothe seit jeher ein Fan von Franz Josef Strauß gewesen ist? Frau Schubert klärte mich über die Nachteile auf, die ich in der Schule gehabt hätte, und die beiden Graupner-Schwestern sprachen von Dänemark, wo eine Cousine von ihnen lebt, der sie jetzt endlich schreiben könnten. Als ich sie überrascht fragte, warum sie ihrer Cousine denn nicht schon früher geschrieben hätten, wies man mich mit »falsch, ganz falsch« zurecht, und dann deklamierte Tilda Graupner stolz den Satz: »Als Hauptbuchhalterin durfte ich keine Westkontakte haben!« Du bist der Star des Hauses. Du hättest mit Deiner Ausreise als erste die richtige Entscheidung getroffen! Und ein Schimmer Deiner Gloriole fällt auch auf Deinen Bruder. Die Schaffners verlassen angeblich nur im Dunkeln ihre Wohnung, jedenfalls ist sich die revolutionäre (oder reaktionäre?) Hausgemeinschaft einig, diese Stasispitzel nicht mehr zu grüßen.
    Robert wollte wieder Photos sehen. Mir ist nie aufgefallen, daß die Alben nur bis zu Vaters Tod reichen. 30 Aus dem Schrank kommt

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