Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Neue Leben: Roman (German Edition)

Neue Leben: Roman (German Edition)

Titel: Neue Leben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingo Schulze
Vom Netzwerk:
bogen und wir ihre Rufe und das Gejohlehören konnten, ein Spalier von Frauen, die uns auslachten. Dreimal klopfte sie noch gegen die Scheibe, dann war das alles verschwunden.
    An Roberts Hals blühten rote Flecken. »Du hast ihr einfach gefallen«, versuchte Michaela ihn zu beruhigen.
    Pariser Boden betraten wir am Fuße von Sacré-Cœur. Die Luft war milder, als ich erwartet hatte. Das Häusermeer strahlte eine Ruhe aus, die von den wenigen Wagen und Mopeds, die wie Fischlein durch die Straßen flimmerten, nicht gestört wurde. Wir stiegen die Stufen hinauf. »Wie oft waren wir nach getaner Arbeit hier heraufgekommen, fröstelnd, seit wir die Ankunft des Herbstes am Boulevard St-Germain gesehen hatten, den Regen über der Seine«, rezitierte ich. 37 Robert wollte wissen, was das große Dach auf der linken Seite sei, und stutzte, weil ich unsicher war, welcher Bahnhof es sein könnte oder ob es überhaupt ein Bahnhof war. Ich wunderte mich, wie wenig markante Punkte es gab, Madeleine und den Louvre, ganz rechts der Eiffelturm, alles andere verschwamm, und mir war es recht. Am liebsten hätte ich mich auf einer der Bänke ausgestreckt und geschlafen. Das weiße Gestein erinnerte mich an die Fischer-Bastei. 38 Die Tauben, die von der Kehrmaschine aufgescheucht wurden, stammten vom Neustädter Bahnhof. 39
    Plötzlich kniete ein Mann vor mir. Er war wie ein Stein vom Himmel gefallen, mitten auf den Weg. Er blickte zu Boden, als betete er, und bot uns einen Kranz verschwitzter Haarsträhnen dar. Das unförmige Ding in seinen Händen stellte sich als Mütze heraus, in der bereits eine Münze lag. Ich hatte keine Francs und traute mich nicht vorbei. Mamus sprang mir bei, stopfte einenSchein in die Mütze und flüsterte in perfektem Deutsch: »Von der ganzen Familie.« Eine Frau, die, wie wir später erfuhren, Deutschlehrerin in Erfurt ist, sagte, es sei nicht hinnehmbar, daß sich ein Mensch vor anderen Menschen derart demütige. Während sie weiterredete und sich ein Halbkreis bildete, hob der arme Lazarus – er dachte wohl, man spreche mit ihm – langsam den Kopf. Als die Gruppe seiner zerschrammten Stirn und Nase gewahr wurde und in sterbensmüde Augen und einen zahnlosen, halb geöffneten Mund sah, verstummten die Reden. Wir traten geschlossen die Flucht an.
    Danach verging die Zeit wie im Flug. Als gäbe es überall etwas Besonderes zu schnüffeln, wurden wir in der Nähe des Centre Pompidou herausgelassen, am Triumphbogen, am Concorde und am Invalidendom, obwohl wir mit Ausnahme des Centre vom Bus aus den besseren Blick gehabt hätten.
    Als wir am Eiffelturm hielten, am anderen Ende des Feldes, machten wir uns en famille auf die Suche nach einer Toilette. Auf dem Rückweg sahen wir, wie sich innerhalb von Sekunden unsere Reisegruppe vor der mittleren Bustür zusammenzog, um sich gleich darauf ebenso schnell zu einer Reihe zu ordnen. Die Ersatzbusfahrerin schöpfte mit einer viel zu großen Kelle Suppe in weiße Plasteteller. Robert und ich stellten uns an. Da wir aber, endlich an der Reihe, weder Napf noch Löffel vorweisen konnten, wurden wir aufgefordert, uns zu gedulden, um von den hastigen Essern, wie sich die Fahrerin ausdrückte, eine leere Schüssel zu übernehmen, die wir dann abwaschen könnten.
    Über dieser Prozedur war mir entgangen, daß nun, nach erfolgter »Stärkung«, der Turm »bestiegen« werden sollte. Die ersten hatten sich bereits davongemacht, als ich noch versuchte, Mamus und Michaela zu einem Spaziergang zu überreden. Mein einziger Erfolg war, daß Mamus mir ein paar Scheine zusteckte – und schon hatten wir uns getrennt.
    Ich überlegte, ihnen nachzulaufen, machte sogar ein paar Schritte – plötzlich war ich kurz davor, in Tränen auszubrechen. Das Bewußtsein, für zwei Stunden frei zu sein, so frei, wie ich es noch nie in meinem Leben gewesen bin, beraubte mich meines Willens. Ich ging zurück zu dem Café, in dem wir auf der Toilette gewesen waren, um dort, vor allen Eventualitäten geschützt, zu warten. Der herbeieilende Garçon, der mich wohl wiedererkannt hatte, wollte mir den Eintritt verwehren; er machte sich nicht mal die Mühe, mit der ganzen Hand zu wedeln, nur seine Finger streckten sich ein paarmal angewidert. Ich deutete auf die freien Barhocker und ging weiter.
    Ich betonte Kaffee auf der letzten Silbe und bestellte außerdem »mineralnaja woda«, als wäre es weniger peinlich, russisch als deutsch zu sprechen. Ich zeigte dann einfach auf eine der beiden Flaschen, die

Weitere Kostenlose Bücher