Neue Leben: Roman (German Edition)
wie sie von Zeile zu Zeile an Kraft verlor und wie schließlich nur das Gekünstelte und die Theaterpose übrigblieben.Zum Ende wurde sie immer schneller, eine Todsünde für eine Schauspielerin.
»Ich war nicht gut«, flüsterte sie, ich nahm ihre kalte Hand und hielt sie eine Weile fest. »Macht nichts«, sagte ich, während das Kopfnicken des Bassisten der unseligen Band den Einsatz gab.
Hundertmal, tausendmal hatte ich mir vorgestellt, eine Revolutionsrede zu halten, als liefe mein Leben auf diesen Augenblick hinaus, mein Wunschtraum, zu dessen Erfüllung ich nun verdammt war.
Mit der Linken zerknüllte ich das Zettelchen, mit der Rechten umfaßte ich den Rand der kleinen Kanzel 309 und kämpfte gegen einen Lachreiz an.
Ich sah auf. Kein Hüsteln, kein Räuspern, kein Scharren. In diese vollkommene Stille hinein sagte ich: »Ich heiße Enrico Türmer, wohne seit anderthalb Jahren mit Frau und Sohn in der Georg-Schumann-Str. 104, arbeite am Theater und bin parteilos.«
Ich sah über die Köpfe der Leute hinweg den Mittelgang entlang und begann.
»Wir haben Fehler gemacht, wir legen ein Geständnis ab, wir klagen uns an.
Wir haben uns das Pionierhalstuch umgebunden und das Lied von der Friedenstaube gesungen, als Panzer durch Budapest fuhren.
Wir haben geweint und die Hände in den Schoß gelegt, als man uns einmauerte.
Wir haben geschwiegen, als der Prager Frühling von sowjetischen Panzern niedergewalzt wurde.
Wir bezahlten den Solidaritätsbeitrag, während in Danzig Arbeiter erschossen wurden.«
Die atemlose Stille verlieh meinen Worten eine Kraft, die nichts mit mir zu tun hatte, es waren nicht mehr meine Worte.
»Wir demonstrierten am 1. Mai die unverbrüchliche Treue zur Sowjetunion, als ihre Truppen in Afghanistan mordeten.
Wir rissen Witze über faule Polacken, während die Polen für freie Gewerkschaften stritten, und schworen den Fahneneid, als die NVA an Oder und Neiße in Stellung ging.
In der Friedhofsruhe, die seit Monaten auf dem Platz des Himmlischen Friedens herrscht, hören wir noch immer, wie Honecker und Krenz den Mördern Beifall klatschen.«
Ich spürte, wie die Worte um mich wirbelten, ich spürte, wie sie mich losrissen, ich spürte, wie sie mich mit sich fortschwemmten.
»Wir zogen unsere besten Sachen an, wenn wir ins Wahllokal gingen.
Wir lernten, von diesem Land zu reden, ohne das Wort Mauer zu benutzen.
Wir ließen uns als lebende Girlanden an den Straßenrand stellen.
Wir gingen zur Jugendweihe und gelobten dem Staat Treue.
Wir übten Handgranatenwurf und Luftgewehrschießen, während die besten Schriftsteller, Schauspieler und Musiker das Land verlassen mußten.
Wir ließen uns zur Neubauwohnung beglückwünschen, während die alten Stadtkerne abgerissen wurden.
Wir zählten die olympischen Goldmedaillen, aber der Zahnarzt wußte nicht, womit er unsere Zähne sanieren sollte.
Wir hängten Fahnen aus dem Fenster, obwohl wir uns in Prag und Budapest schämten, als DDR-Bürger erkannt zu werden. Wir erhoben uns zur Nationalhymne, obwohl wir am liebsten im Boden versunken wären.«
Ich richtete meinen Blick in die Ferne.
»Wir wollen nicht länger Schuld auf uns laden! Unsere Geduld ist zu Ende! Man wird uns sehen können, auf den Straßen, auf den Marktplätzen, in Kirchen und Theatern, im Rathaus, vor den Häusern der Kreisleitung, vor den Villen der Staatssicherheit. Wir haben nichts zu verbergen, wir zeigen unsere Gesichter! Wir haben nichts zu verschweigen, wir nennen unsere Namen! Die Zeit der Bitten ist vorbei! Weg mit der Mauer, weg mit der Staatssicherheit, weg mit der SED! Her mit freien Wahlen, freien Medien, her mit der Demokratie! Wir brauchen keine Genehmigungen! Wir gehen jetzt auf die Straße! Das ist unser Land!«
Die Stille zerbarst. Der ganze Raum war in Aufruhr, Poltern, Klatschen, Pfiffe. Wenn es nicht zu unsinnig klingt: Ich starrte auf den Lärm und klammerte mich an die Kanzel, weil mir von meinen Worten schwindelte. Die Leute drängten hinaus. »Klasse«, rief die Frau mit der Narbe, »echt klasse!« Michaela hielt die Arme verschränkt, die Hände um die Ellbogen gelegt. Später sagte sie, der Pfarrer habe mich beiseite geschoben, um ans Mikrophon zu gelangen. Aber die Orgel habe ihn übertönt.
Je näher wir dem Ausgang kamen, desto deutlicher hörten wir die Sprechchöre.
Die Demonstration zog sich vorbei an der Polizei, vorbei am Rathaus über den gesamten Markt und bog am anderen Ende links in die Sporenstraße. Wir folgten als
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