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Neue Leben: Roman (German Edition)

Neue Leben: Roman (German Edition)

Titel: Neue Leben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingo Schulze
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Nachhut. Plötzlich öffnete sich die Tür des Polizeigebäudes, zwei Uniformierte eilten auf uns zu und fragten, wo es denn langgehe. Woher wir das wissen sollten, rief der Langhaarige, der gerade sein Transparent (Freie Wahlen!) entrollte. Die Frau mit der Narbe beschrieb ihnen die wahrscheinliche Route, vorbei an der Staatssicherheit und dem Rat des Kreises und hinauf zur Kreisleitung. Sie sollten die Zeitzer Straße sperren und die Puschkinstraße.
    Als wir über die Ebertstraße liefen, hörten wir das Pfeifkonzert,das nur der Stasivilla gelten konnte. »Hoffentlich machen sie keine Dummheiten! Hoffentlich, hoffentlich«, flüsterte Michaela.
    Nachts gegen halb zwei wurden unmittelbar vor unserem Fenster Autotüren zugeschlagen, ich lauschte auf die Schritte, ich glaubte bereits, das Klingeln zu hören. Aber wieder geschah nichts. Und das beunruhigte mich fast noch mehr.
    Ihr Enrico T.

 
     
    Pfingstmontag, 4. 6. 90
    Verotschka,
    jetzt muß ich Dir doch schreiben: 310 Mamus war zwei Tage hier.
    Am ersten Abend waren wir bei Michaela eingeladen.
    Plötzlich war alles wie früher, jeder saß auf seinem Platz, und wenn Freund Barrista nicht in Hausschuhen herumgelaufen wäre, hätte man auch ihn für den Gast halten können. Mamus benahm sich, als sei nichts geschehen, und ignorierte die neue Konstellation. Robert ist ihr Enkelkind und Michaela ihre Schwiegertochter, und nun ist erfreulicherweise noch der Baron hinzugekommen. Bei allem, was er sagte, war Mamus stets seiner Meinung und lobte mehrmals die Sachlichkeit des Herrn von Barrista. Er sprach immer wieder von Dresden, und wie herrlich doch die Fahrten mit der Straßenbahn und die Stadtführung gewesen seien und wie herzlich ihre Gastfreundschaft. Das ist erst drei Wochen her! 311
    Neu war für Mamus, daß Michaela im Theater gekündigt hat. »Warum denn das?« rief sie. Michaela aß weiter, als hätte sie die Frage nicht gehört. Statt dessen begann ihr Baron umgehend zu dozieren. Zuerst sprach er über den Zustand der Welt und erklärte unser Heute kurzerhand zur besten Gegenwart, die es je auf dieser Erde gegeben habe (konkurrenzlos starke Demokratien und ein technologischer Fortschritt, der den Menschen mehr und mehr entlaste und ihm die Freiheit schenke, seiner eigentlichen Berufung nachzugehen). Vor uns, so der Baron, liege jetzt, da der Eiserne Vorhang gefallen sei, die Zeit der Bewegung, der Tat, hinter uns die der Kontemplation und Grübelei. Gerade nun, da sich in einer Woche mehr verändere als früher in Jahren, stehe die Kunst, egal ob in Ost oder in West, auf verlorenem Posten. Die Erfahrungen von heute werden nicht im Theater gemacht, sondern im Geschäft, auf dem Markt. Der tägliche Wandel sei in unseren Tagen nicht nur aufregender als Shakespeare, sondern auch mit Shakespeare nicht mehr zu fassen.
    Im Grunde sagte er nichts anderes als das, was ich sinngemäß bereits im Januar vorgebracht hatte. Mitunter verwendete er sogar dieselben Worte. Jetzt aber nickte Michaela geradezu eifrig, und Mamus stimmte dem Baron zu und wiederholte, daß wir die Dinge jetzt sachlich sehen müßten.
    Nach Tisch ließ Freund Barrista etwas in einem Schächtelchen mit Glasdeckel herumgehen. Der Anblick verhieß nichts Gutes, irgendein vertrocknetes Etwas in einer Art Mausefalle. Ahnst Du es? Unsere arme Mamus erschrak so sehr, daß sie sich gegen die Stuhllehne preßte – ein paar Knöchelchen des Bonifatius.
    »Sachlich« vollzog sich dann auch unser Abschied, obwohl jeder von uns verlegen war. Robert brachte uns zum Auto. (Freund Barrista hat ein so schlechtes Gewissen, daß er mir nicht nur den Wagen überschrieben hat, sondern auch noch die Versicherung bezahlt.)
    Auf der Fahrt erzählte ich Mamus von der neuen Wohnung, beschrieb ihr den Blick hinüber zum Schloß und die Weitläufigkeit unserer Räume. Ich erwähnte dies, um ihr das öde Zimmer, in dem sie mit mir übernachten sollte, erträglich zu machen. 312 Außerdem schien es mir besser, mit ihr zu reden, als sie ihrem Schweigen zu überlassen.
    »Ich ziehe nicht allein ein«, sagte ich plötzlich, es war mir so herausgerutscht. Mamus zeigte keine Reaktion. Erst als wir hielten, verkündete sie das Ergebnis ihrer Überlegung: »Vera!«
    »Ja«, sagte ich, »Vera!« Ich fragte Mamus, ob sie noch einen Spaziergang mit mir machen wolle, denn im Zimmer gebe es außer den beiden Luftmatratzen nur einen Stuhl. Sie schüttelte den Kopf. Ich erschrak richtig, als ich sah, wie langsam sie die Treppen

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