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Neue Leben: Roman (German Edition)

Neue Leben: Roman (German Edition)

Titel: Neue Leben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingo Schulze
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sitzt dort und schaut zur anderen Seite aus dem Fenster. Plötzlich zieht eine Frau die Heulende neben mir hoch, hakt sie unter und geht an dem Bitte-Polizisten vorbei in die Bahn. Und ich, ich kann nur Blödsinn denken, keinen vernünftigen Gedanken fassen. Ich denke, jetzt ist das Kontingent erschöpft, mehr Ausnahmen können die nicht machen. Ich denke, daß sie den Photoapparat nicht sehen dürfen, wenn sie den finden, verhaften sie mich. Und dabei hab ich immer auf die vornehme Dame geschaut, und dann klingelt die Bahn und fährt mit den drei Frauen im ersten Wagen ab.«
    Mamus lachte auf. »Wäre die Vornehme nicht gewesen, würde ich mir nicht mal jetzt Vorwürfe machen. So kaputt haben sie uns gemacht, Enrico, so kaputt!«
    Mamus zu trösten war sinnlos. Sie ließ keine Entschuldigung gelten. Sie habe vorher genug gesehen, wie die auf die Leute los sind und wie die zugeschlagen haben. Aber das spiele eigentlich gar keine Rolle, das müsse ich doch verstehen. »Ohne Gegenwehr habe ich mich in mein Schicksal gefügt, willfährig bin ich gewesen, einfach nur willfährig!«
    Alles, was danach passiert sei, was ihr die jungen Burschen zugefügt haben, daß sie auf ihren Händen habe knien müssen, wegen dieses verdammten Photoapparates, das erscheine ihr jetzt wie die Strafe für ihr Versagen.
    Die letzten Worte hatte sie geflüstert, weil Cornelia und Massimo nach Hause gekommen waren. Als ich etwas sagte, zischte Mamus, ich solle still sein. Die Dielen knarrten. Wir hörten auf das helle Kichern von Cornelia und Massimos ewig heisere Stimme. Ich hörte, wie sie eine Flasche entkorkten und wie sie anstießen. Und dann hörte ich plötzlich das Schnarchen von Mamus.
    Sie schlief bis acht, angeblich so lange wie seit Jahren nicht mehr. Beim Frühstück sagte sie: Die Photos waren sowieso alle verwackelt!
    Den ganzen Sonntag verbrachte Robert mit uns. Und als wir Mamus zum Bahnhof begleiteten, sagte sie, daß sie sich darauf freue, die Familie bald wieder zusammen zu wissen.
     
    Soll ich Dich eifersüchtig machen? Weißt Du, wer mich am Freitag besucht hat? Mein schöner Nikolai! 313 Er stand plötzlich vor mir, mitten in der Redaktion, und lächelte, er zerfloß förmlich vor Lächeln. Aber keine Angst, auch er hat sich mit einer Familie umgeben – Marica, »ein Bild von einer Frau«, wie Mamus sagen würde, eine Jugoslawin, die, wenn sie nicht gerade ihre beiden Mädchen kommandierte, mir berichtete, was Nikolai ihr alles von mir erzählt hat. Manchmal habe sie den Eindruck, sie wisse von mir mehr als von ihm. Nikolai ist schon 84 in den Westen, nach Bielefeld, wo sich sein Vater niedergelassen hat. Er hat eine Fachschule besucht, irgend etwas mit Elektrotechnik, und verdient »gutes Geld«, wie Marica sagte. Jedenfalls fahren sie einen riesigen Mercedes, eine Staatskarosse, der gegenüber sich mein LeBaron wie ein Spielzeug ausnimmt. Sieben Jahre hatten wir nichts voneinander gehört.
    Johann wird im August bei uns anfangen. Franziska hat endlich eingewilligt, eine Entziehungskur zu machen, im September wird ihre Wohnung hier fertig, es soll für sie ein Neubeginn werden.
    In Liebe, Dein Heinrich

 
     
    Freitag, 8. 6. 90
    Lieber Jo!
    Entschuldige, falls ich Dich mit meinem letzten Brief beunruhigt haben sollte. Glaub mir, Deine Stelle war nie gefährdet. Aber ich hielt es für das beste, Dir reinen Wein einzuschenken.
    Du kannst Dir die unglaubliche Hysterie und den Haß nicht vorstellen. Ich hatte gar keine Wahl mehr, ich mußte die Notbremse ziehen. Noch jetzt, nach all dem Unrat, den sie über mir ausgeschüttet haben, empfinde ich weit mehr Trauer als Genugtuung über unsere Trennung. Wir hätten es so gut haben können! Wir wären unschlagbar gewesen! Zum Schluß sah auch Jörg, daß er sich verrannt hatte, aber da fehlten ihm bereits Kraft und Mut, seine Entscheidung zurückzunehmen. Nun leidet er. Kein Wunder bei so vielen vergebenen Chancen!
    Da ich nicht bereit gewesen war, mich seinem Diktat zu beugen, blieb mir nichts anderes übrig, als genau das zu tun, was Jörg mir als Ausweg vorgeschlagen hat, nämlich gemeinsam mit dem Baron ein Anzeigenblatt ins Leben zu rufen. 314
    Weißt Du, was passierte, als ich Jörg und Marion meinen Entschluß mitteilte? Sie forderten »ihren Anteil« zurück. Ich begriff erst gar nicht, was sie meinten. Ich saß neben Frau Schorba am Computer und hörte Marion und Co. nebenan keifen (statt meinesNamens verwendeten sie nur den bestimmten Artikel). Ich ahnte schon

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