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Neue Leben: Roman (German Edition)

Neue Leben: Roman (German Edition)

Titel: Neue Leben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingo Schulze
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hinaufstieg.
    Cornelia und Massimo waren nicht da. Wir hätten uns in die Küche setzen können, aber Mamus wollte sich gleich »bettfertig« machen. Als ich nach ihr ins Badezimmer ging, entdeckte ich in ihrem Kulturbeutel ein ganzes Sammelsurium von Medikamenten und Salben.
    Mamus hatte schon das Licht ausgemacht und sich statt auf die Luftmatratze mit dem frischen Bettzeug auf meine Matte gelegt.
    Ich fragte, wozu sie solche Mengen an Medikamenten brauche. »Alles mögliche«, sagte sie. Ich wollte wissen, ob »alles mögliche« auch bedeute, daß sie noch Schmerzen von den Mißhandlungen habe.
    »Das geschieht mir ganz recht«, sagte sie.
    »Wer sagt denn so was?« fragte ich. »Deine Kolleginnen?«
    »Nein«, antwortete Mamus, »ich sage das, ich selbst.«
    Sie hatte die Bettdecke bis zum Kinn hochgezogen, ihre Nase ragte spitz auf. Am liebsten hätte ich das Licht wieder angemacht.
    Plötzlich sagte sie: »Ich schäme mich so« und drehte sich von mir weg.
    Ich stand auf und kniete mich neben sie. Ich bat sie, mit mir zu sprechen, ich versuchte, ihre Wange zu berühren, ich beugte mich hinab, um ihr in die Augen zu sehen. Aber das war alles falsch, ich solle mich hinlegen, ich solle mich bitte hinlegen. Nein, sagte ich, sie solle mir endlich sagen, was los sei.
    Sie schwieg.
    »Dieser verdammte Photoapparat«, begann sie, nachdem ich mich auf die Luftmatratze zurückgezogen hatte. »Dieser verdammte Photoapparat.«
    Ich wagte kaum zu atmen, als belauschte ich sie heimlich.
    Mamus war am 6. Oktober, einem Freitag, nach der Klinik zum Hauptbahnhof gefahren. Sie war neugierig, sie wollte sehen, was wirklich passierte. Und sie hatte ihren alten Photoapparat dabei. Sie hatte ihn eingesteckt, ohne groß zu überlegen. In der Bahn traf sie C., die Kinderärztin, ihre Sitznachbarin beim Staatskapellenanrecht. C. fuhr mit ihr zum Hauptbahnhof. Zunächst schien alles harmlos. Dann aber begannen die Demonstranten Steine zu werfen. Mamus hielt ihren Photoapparat hoch und drückte ab. Die Polizei ging auf die Demonstranten los, und C. rief: »Jetzt!«, »Dort!«, »Da!«, »Jetzt!« und riß Mamus am Arm. Mamus erzählte von Kampfgruppen, die sich, angetrieben von einem Megaphon, gegen die Demonstranten wandten. Auf einmal verschwamm alles um sie her. Tränengas, rief C., sie solle die Augen fest schließen und sich die Hände vors Gesicht halten. Sie hakten sich unter. Ohne zu sehen, wohin, gingen sie hundertoder zweihundert Meter, bis sie glaubten, aus der Wolke rauszusein.
    Danach verabschiedete sich Mamus von C. und stieg in die erste Straßenbahn, die kam. Der Fahrer aber weigerte sich abzuklingeln, weil die Demonstranten die Straßenbahn angriffen. In der Bahn wurden Sprüche geklopft. Nun könne man nicht mal mehr abends ins Kino fahren. Ein paar grölende Demonstranten stiegen in die Bahn, und einer rief: »Scheißbullen!« Dann ging alles »ruck, zuck«. Mamus wußte gar nicht, wie ihr geschah. Der hintere Wagen wurde geleert. Sie sah die Leute aussteigen, sah, wie sie auf die Knie gingen, wie sie sich auf die Steine vor dem Hauptbahnhof legten, das Gesicht nach unten, über ihnen die Polizisten mit Schlagstöcken und Hunden. »Chile eben«, sagte sie und machte eine Pause, in der ich sie atmen hörte.
    »Saudumm bin ich gewesen«, fuhr sie fort, »saudumm, weil ich dachte, das geht mich nichts an. Ein dicker Uniformierter stieg vorn in den Wagen ein und rief: ›Steigen Sie bitte aus und legen Sie sich hin!‹ Das sagte er ganz höflich, als handelte es sich um einen Unfall. Von hinten aber kam ein drahtiger Typ und schrie: ›Raus! Hinlegen!‹ Und ich blödes Schaf mache auch noch, was der sagt! Ich hab es einfach gemacht. Verstehst du? Deine Mutter steht auf, steigt aus und legt sich draußen auf die dreckige Straße, verstehst du das?«
    Mit tränenerstickter Stimme sagte sie: »Ich habe völlig versagt, völlig …« Ich wagte nicht, sie zu berühren. Ich sagte, daß sie sich nichts vorzuwerfen habe. Was habe das denn mit Versagen zu tun?
    »Doch, doch!« flüsterte sie, um mich kurz darauf anzufahren: »Natürlich habe ich versagt!«
    Mamus bat mich um ein Taschentuch und schneuzte sich.
    »Neben mir«, begann sie wieder, »lag eine Frau, die wimmerte und heulte wie ein Kind, völlig hemmungslos. Als ich den Kopfhob, sah ich die Bahn, und mitten in der leeren Bahn saß eine ältere, sehr gut gekleidete Dame. Sie erschien mir unglaublich vornehm. Zwanzig, dreißig Leute liegen auf dem Boden, nur die eine

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