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Neue Leben: Roman (German Edition)

Neue Leben: Roman (German Edition)

Titel: Neue Leben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingo Schulze
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gewartet. Schließlich waren sie von Kleindienst auf die Bühne gebeten worden, um, wie er gesagt habe, ihren verdienten Applaus in Empfang zu nehmen. Die Musiker seien so wütend abgezogen, daß man wohl mit ihnen nicht mehr rechnen könne.
    Am Mittwoch jedoch kam Michaelas großer Tag. Mutter, Robert und ich setzten uns in die Vorstellung, »Emilia Galotti«. Michaela war nicht bei der Sache. Als Emilia zu ihrem Bericht ansetzte, wußte sie nicht weiter.
    Nach der Pause verzog ich mich in die Dramaturgie. Die Intendanz war hell erleuchtet. Der technische Direktor, die Verwaltungschefin, die zugleich Parteisekretärin war (und nun Intendantin ist), saßen mit drei oder vier anderen zusammen, deren Stimmen ich nicht erkannte.
    Ich hörte auch immer wieder Schritte und das Klappen der Eingangstür. Trotzdem war ich dann überrascht, wie viele gekommen waren. Jambo, der auf der untersten Stufe der kleinen Treppe stand, die zur Bühne führte, spielte gedankenverloren mit der Kordel seiner Brille. Eine Frauenstimme flüsterte: »Der Intendant!«
    Ich hatte ihn nicht bemerkt. Er saß am Tisch, den Kopf auf den verschränkten Armen, als würde er schlafen, seine Schultern zuckten. Ich dachte zuerst an ein Unglück, einen Todesfall.
    Nach dem Knacken des Lautsprechers bat Olaf, der Inspizient, den Darsteller des Odoardo auf die Bühne. Er ließ den Lautsprecher eingeschaltet, so daß wir von da an die Vorstellung mitverfolgen konnten. »Noch niemand hier? Gut, ich soll noch kälter werden«, schnarrte es aus dem Lautsprecher.
    »Habt ihr denn nicht Radio gehört?« fragte Jonas mitten in den Satz hinein. »Wer kein Gesetz achtet, ist doch genauso mächtig wie der, der keins hat!« 305
    Jonas’ Augen, von Tränen schlierig, sahen in die Runde, ein Blick, der sich auf der Suche nach Barmherzigkeit von einem zum anderen schleppte. »Habt ihr denn nicht Radio gehört? Kriegt ihr denn nichts mehr mit? Könnt ihr nur noch in eine Richtung denken?« Er schüttelte den Kopf. »Sie wissen es nicht«, rief er, »sie wissen nichts von der wichtigsten Veränderung seit Jahrzehnten! Hat denn keiner gehört, was das Politbüro heute abend erklärt hat?«
    »Huch!« rief Jambo. »Ist die Mauer weg?«
    Jonas brüllte; seine Stimme explodierte in dem kahlen Raum.Michaela behauptete später, selbst durch die Stahltür habe man ihn gehört. Sein Kopf wurde derart rot, daß ich ihn bereits mit starren Augen und offenem Mund auf den Tisch fallen sah.
    Die Bügel von Oliver Jambos Brille hatten sich in der Kordel verwickelt, so daß er eine Bewegung machte, als schüttelte er ein Fieberthermometer. »Könnten Sie das noch mal wiederholen?« fragte er leise.
    Statt sich wie erwartet auf Jambo zu stürzen, begann Jonas zu predigen. Seine ganze Erklärung war so läppisch, daß ich mich an nichts erinnere, außer an zwei Formulierungen, die Jonas mehrmals wiederholte: »Es wird keine chinesische Lösung geben« und »Das Politbüro steht mit dem Gesicht zum Volk«.
    Aus dem Lautsprecher kam der Schlußapplaus. Jonas redete weiter. Er setzte gerade wieder zu seinem »mit dem Gesicht zum Volk« an, als Michaela etwas atemlos aus dem Lautsprecher zu vernehmen war: »Los, es geht los!« »Meine Damen!« sagte Jambo und hielt die Stahltür auf. Ich folgte als letzter. Als ich mich noch einmal umdrehte, sah ich Jonas mit halb erhobenem Arm dastehen, ins Leere weisend. 306
    Michaela trat vor und begann. Ein Paar stand eilig auf und stürzte hinaus. Im halben Saallicht sah ich Mutter und Robert, die beide kerzengerade dasaßen und lauschten, als wäre die Galotti wiederauferstanden, um Rache an Marinelli zu nehmen. Auch der Tonfall, in dem sie sagte »Wir treten aus unseren Rollen heraus«, war derselbe wie der, mit dem sie gesagt hatte: »Aber alle solche Taten sind von ehedem!«
    Mir war es unangenehm, einfach nur dazustehen, reduziert auf meine körperliche Präsenz. 307
    Das Publikum applaudierte, die meisten erhoben sich, auch Mutter und Robert. An Michaela sah ich den Reflex, sich bei Applaus zu verbeugen. Sie bekam ihn gerade noch unter Kontrolle, breitete aber die Arme aus, als wollte sie sagen, wir alle hier denken so, und trat zurück. Die Leute klatschten weiter und schienen auf etwas zu warten, ein Lied oder ein Nachspiel. Ein paar folgten Michaelas Beispiel und spendeten mit ausgestreckten Armen den Zuschauern Beifall. Statt eines geordneten Abgangs begannen wir einzeln von der Bühne zu bröckeln. Die letzten, unter ihnen die Galotti,

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