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Neue Leben: Roman (German Edition)

Neue Leben: Roman (German Edition)

Titel: Neue Leben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingo Schulze
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flohen dann regelrecht. Das Publikum, 124 verkaufte Karten, klatschte, wie um eine Zugabe zu erzwingen.
    Als wir am nächsten Tag ins Theater kamen, wartete bereits ein Emissär der Umweltbibliothek an der Pforte. »Die ganze Stadt spricht von eurer Aktion«, sagte er, nickte ernst und lud uns für den Abend in die Martin-Luther-Kirche ein, um über unseren Aufruf zu informieren. Da ich von keiner Umweltbibliothek in Altenburg wußte, glaubte ich zuerst, er sei aus Berlin gekommen.
    Die Einladung an uns galt einer »Fürbittandacht«.
    Über Mittag residierte Michaela in der Kantine und empfing die Huldigungen selbst von Orchester und Chor. So war es ihr noch nach keiner Premiere ergangen. Michaela bestimmte, wer abends die Resolution im Theater vorlesen solle, weil sie selbst beabsichtigte, in der Kirche aufzutreten.
    Die Martin-Luther-Kirche, jener neogotische Zeigefinger an der Stirnseite des Marktes, war überfüllt. Ich folgte Michaela durch den Mittelgang nach vorn, wo uns der Emissär empfing. Wie lange hatte ich keine Kirche mehr betreten!
    »Schrecklich, ganz schrecklich«, sagte immer wieder eine Frau mit kurzen Haaren und einer langen schmalen Narbe, die ihre rechte Augenbraue kreuzte. »Ganz, ganz schrecklich!« Sie meinte Bodin, den Pfarrer der Kirche, der sie aufgefordert hatte, statt weiter große Reden zu schwingen, lieber einen Dankgottesdienst zu veranstalten. Gedankt werden sollte Gott für die um Verständnis bemühte Erklärung des Politbüros. Im übrigen gebe es starke Kräfte in seiner Gemeinde, die überhaupt kein Verständnis für diese Veranstaltung hätten. Wenn sie und ihre Freundinnen das nicht begriffen, sehe er keine andere Möglichkeit, als jenen Gemeindemitgliedern nachzugeben und seine Kirche für diese Krawallveranstaltung zu schließen.
    Irgendwie verstand ich den Pfarrer Bodin, diesen älteren, vollkommen kahlköpfigen Mann, der sich im Talar auf einen Stuhl an der Wand gesetzt hatte und in Gedanken oder in ein Gebet vertieft war.
    Michaela und ich wurden mehrfach begrüßt. Der Gründer des »Neuen Forums Altenburg« (jede Stadt hatte ihr eigenes Neues Forum) schnappte nach Luft, als er uns erzählte, daß heute früh die Radmuttern an seinem Trabi locker gewesen seien. Ein dürrer Langhaariger mit einem Chinesenlächeln trug ein zusammengerolltes Transparent wie eine große Puppe im Arm. Immer wieder stellten sich junge Frauen als Mitglieder oder Sprecherinnen von Umwelt- und Friedensgruppen vor.
    Auch bei denen, die sich in den Gängen und auf den Emporen drängten, waren mehr Frauen als Männer. »Heute muß was passieren!« sagte die Frau mit der Narbe und hockte sich vor uns hin.
    »Was soll denn passieren?« fragte ich.
    »Na, Demonstration!« rief sie. »Es muß doch hier mal losgehen! Einer muß heute mal den Mund aufmachen!«
    Der Langhaarige kam dazu und mischte sich ein: »Es ist besser,wenn jemand redet, den sie hier noch nicht so kennen.« Merkwürdigerweise leuchtete mir das damals ein. Ich spürte zu spät, wie prekär die Situation durch mein Nicken für mich geworden war. Der vom Neuen Forum kam wieder mit seiner Radgeschichte und daß er seiner Familie sowieso schon viel zuviel zumute. Michaela rührte sich nicht. »Kannst du das nicht machen?« fragte die Frau mit der Narbe und sah mich an. Ich saß in der Falle.
    »Und was soll ich sagen?« fragte ich. »Klasse«, rief sie, »das ist echt klasse!« Der mit den langen Haaren beugte sich über mich und berührte meine Schulter. »Gut, Enrico, sehr gut!« Ich war so verunsichert, daß ich ihn fragte, woher er denn meinen Namen kenne 308 . In diesem Moment begann die Kirchenband zu spielen. Der Bassist, der den Einsatz gegeben hatte, nickte wie einer dieser Plastedackel, die eine Zeitlang hinter jeder Heckscheibe zu sehen gewesen waren.
    Nach den ersten Takten bereute ich alles, nach der ersten Strophe war ich verzweifelt. Hatte ich mich nicht bislang wohlweislich von solchen Kreisen ferngehalten? Ich verstand immer mehr den Pfarrer Bodin, der schwer atmend dasaß. Seine vorgestülpte Unterlippe hing herab, eine zitternde rotblaue Tülle, über die schon viel zu viele Worte geflossen waren.
    Während jemand von der Menschenrechtsgruppe sprach, wurde mir ein Zettelchen gereicht. »Stelle Dich bitte kurz vor. Danke!«
    Michaela, die anfangs mit viel Applaus begrüßt worden war, beging den Fehler, die Dresdner Resolution mit dem gleichen Gestus vorzutragen wie im Theater. Ich hörte die Galotti. Sie spürte selbst,

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