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Neue Leben: Roman (German Edition)

Neue Leben: Roman (German Edition)

Titel: Neue Leben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingo Schulze
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ist sie tot!«
    Ich bat sie erneut einzutreten. »Sie hat so darauf gewartet, daß Sie kommen, Herr Türmer, ach, hat sie darauf gewartet.« Ruth machte zwei Schritte in den Vorraum und blieb stehen.
    Michaela begrüßte sie gleichermaßen erleichtert und verärgert. Doch Ruth überhörte ihr Beileid und übersah ihre ausgestreckte Hand. Ruths Blick suchte immer nur mich. »Warum sind Sie denn nicht gekommen?« jammerte sie. »Aaah, Herr Türmer! Unser Muttchen hat so auf Sie gewartet.«
    Ich sagte, daß gerade jetzt, in diesem Herbst, so viel los gewesen sei. Wir seien, verteidigte mich Michaela, in den letzten Wochen kaum nach Hause gekommen. »Aaah, Herr Türmer!« rief Ruth. »Warum sind Sie denn nicht mal für ein Stündchen gekommen?! Neeeh!« Wie zur Strafe blieb meine Frage, wann ihre Mutter gestorben sei, unbeantwortet.
    »Zur Beerdigung kommen Sie!« befahl Ruth. Sie nannte das Datum, machte kehrt, öffnete die Wohnungstür und ging davon, ohne sich zu verabschieden.
    Nach Ruths Auftritt kehrten die Ängste zurück. Den ganzen Tag über verhörte ich mich selbst. So wie man sich an der Vorstellung der eigenen Beerdigung berauscht, ging ich ganz darin auf, detailliert und lückenlos aufzuzählen, was ich vor drei Tagengetan hatte oder wann ich am Abend vor zwei Wochen ins Bett gegangen war.
    Dann wieder stand ich als Mörder von Markus Wolf vor Gericht. Panzer waren infolge meiner Tat über den Alex gerollt, in jeder Stadt standen sie jetzt, Seite an Seite mit den Russen, das Kriegsrecht war verhängt worden. Ich sollte in einem Schauprozeß verurteilt werden. Wie Dimitroff 333 verteidigte ich mich selbst vor den Augen der Weltöffentlichkeit.
    Am Abend fuhr ich ins Theater und versteckte die Pistole in der herrenlos gewordenen Requisite. Die Munition drückte ich in die Erde eines Blumentopfes, der auf dem Schreibtisch einer Kollegin stand.
    Am Montag fuhr ich mit Michaela und Robert nach Leipzig. Es sollte meine Generalprobe sein. Aber Uniformierte bekam ich gar nicht mehr zu Gesicht. Die Demonstration löste sich nach dem Marsch um den Ring schnell auf. Man wollte rechtzeitig zurück sein, um sich in der Tagesschau zu sehen.
    Am Dienstag wurde ich in die Intendanz gerufen. Dort saßen – ich hatte es erwartet – die beiden Polizisten, Blond und Schwarz. Jonas sagte, er stelle uns nur sein Zimmer zur Verfügung, mehr nicht.
    Natürlich war es naheliegend, mich zu verdächtigen. »Warum sollte ich eine Pistole klauen?« wollte ich so amüsiert wie möglich sagen. Ihre Gesichter waren tiefernst, sie wirkten müde. Ihr Gerede von »Sicherheitspartnerschaft« für die Demonstration am 12. konnte nur ein Vorwand sein. Obwohl sich viel mehr freiwillige Ordner gemeldet hatten, als gebraucht wurden, ließen sich ihre Bedenken nicht zerstreuen. Sie gaben Sätze von sichwie: »Davon können wir nicht ausgehen« oder »Die Genossen müssen wissen, was passiert.« Ich schwieg, weil ich keinem harmlosen Gespräch Vorschub leisten wollte, aus dem heraus die eigentliche Frage mich überrumpeln konnte. Schließlich saßen wir ratlos da und blickten stumm auf den leeren Intendantenthron.
    Später am Tag geschah etwas, das mich dann doch noch überrumpelte. Meine Gedanken, die unablässig um Tod und Töten kreisten, folgten offenbar einem alten Reflex: Plötzlich lag vor mir eine Idee, die Idee für eine Geschichte, ein Science-fiction-Stoff. In der Gesellschaft, die ich beschreiben wollte, werden Schwerverbrecher lebenslänglich auf einer gutbewachten Insel inhaftiert, der Insel der Sterblichen, auf der es ihnen an nichts mangelt, nicht mal an Vergnügungen. Jedoch, und das ist ihre eigentliche Strafe, sind sie dazu verurteilt, eines »natürlichen Todes« zu sterben. Alle anderen können infolge irgendwelcher genetischen Manipulationen oder Hirnverpflanzung mit einem wenn nicht ewigen, so doch tausend- oder zweitausendjährigen Leben rechnen.
    Das Weitere ergab sich von selbst: Ein zur Normal-Sterblichkeit Verurteilter – man hat ihm das Jugend-Gen bereits entnommen, und er altert nun mit jedem Tag – entkommt der Insel der Sterblichen und versetzt die Hauptstadt in Angst und Schrecken. Er gilt als völlig skrupellos, weil er ja nichts mehr zu verlieren hat. Denn ob er jetzt erschossen wird oder in zwanzig oder vierzig Jahren eines natürlichen Todes stirbt, läuft in der Vorstellung der Ewigen auf dasselbe hinaus.
    Plötzlich saß ich wieder an meinem Schreibtisch. Ich arbeitete an der Beschreibung, wie die Medien in

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