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Neue Leben: Roman (German Edition)

Neue Leben: Roman (German Edition)

Titel: Neue Leben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingo Schulze
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Stationsschwester zurRede gestellt, wie sie denn so etwas dulden könne, so eine Brutalität, eine »Fehlgeburt« zu den »Abbrüchen« zu legen … Lieber auf den Gang! habe ich gesagt, ja, lieber auf den Gang, das wäre menschlicher. Alle haben geschwiegen, auch die Schwester. DU GLAUBST ABER AUCH ALLES !
    Ich habe Michaela schwören lassen, daß es wirklich eine Fehlgeburt gewesen ist, und sie hat es auch geschworen. Aber das war Lüge. Lüge und Meineid. Ich hielt es nicht mehr aus, ich bin weg, ohne Abschied.
    Das ist alles, Verotschka. Wir hätten es doch genommen, nicht wahr?
    Dein Heinrich

 
     
    Donnerstag, 21. 6. 90
     
    Ach, Nicoletta,
    mir scheint, als würden ungeahnte Reichtümer am Ende dieses Monats auf mich, auf uns warten. Alles wird sehr, sehr schön sein müssen! Seien Sie mir nicht böse, daß ich so lange nicht geschrieben habe, hier war so viel zu tun! Am liebsten würde ich fragen: Wie geht es Ihnen? Was machen Sie? Hätten Sie eine Stunde Zeit für mich, wenn ich nach Bamberg komme? Ich würde lieber in der Gegenwart mit Ihnen sprechen, als immer nur von der Vergangenheit schreiben. Aber wie es scheint, habe ich keine Wahl.
    Zurück also nach Altenburg und der Pistole unter meinem Pullover.
    Während der ganzen Demonstration war ich voll teilnahmsloser Ruhe. Wäre jemandem etwas aufgefallen, hätte ich meineBeute vorgezeigt, als erlaubte ich mir einen Scherz, und die Pistole bei nächster Gelegenheit abgeliefert. Michaela hielt mich untergehakt an ihrer Seite und war ganz davon in Anspruch genommen, Grüße zu erwidern, egal ob sie die Leute kannte oder nicht. Sie flüsterte mir zu, wen von unseren Nachbarn sie gesehen hatte, und machte mich hin und wieder auf jemanden aufmerksam. Manchmal rätselten wir, woher wir sie kannten – eine Verkäuferin, eine Postangestellte, auch Roberts Unterstufenlehrerin lief mit. Ein paarmal begrüßten sich Leute, um dann, nach ein paar Worten, die unerwartete Gemeinsamkeit mit einer Umarmung zu krönen.
    Vor der Villa der Staatssicherheit gab es die üblichen Pfeifkonzerte und Sprechchöre. Als auf dem Marktplatz die Sache zu erlahmen drohte, verschaffte sich eine Stimme Gehör, die ans Grölen gewöhnt zu sein schien. Er war auf eine Bank gestiegen und schleuderte von dort seine Haßtiraden in die Menge. Der SED verpaßte er immer üblere Adjektive: verdorben, verhurt, verfickt. Bei jeder betonten Silbe stieß seine Faust gen Himmel. Nach sechs oder sieben Sätzen fiel ihm nichts Neues mehr ein, und er begann von vorn, so daß sich während seiner kurzen Rede eine Art Refrain herausbildete. Vor allem die Forderung, alle, aber wirklich alle diese verfickten Funktionäre in den Tagebau zu schicken, wurde jedesmal bejubelt. Dann aber, als ich glaubte, er werde nun zum Sturm auf das Rathaus aufrufen, ließ er es mit einem »Wir kommen wieder! Wir kommen wieder!« bewenden und stieg von der Bank. Von diesem Revolutionsredner habe ich Ihnen schon mal berichtet. Da bot er mir an, einen Leserbrief gegen die Plastik von Wieland Förster zu schreiben. 330
    Auf der Rückfahrt war Michaela euphorisch. Zum Triumph aber wurde der Tag, als wir zu Hause den Fernseher anschalteten. Es lief die Übertragung der Berliner Demonstration. Noch nie, sagte Michaela, habe sie mit so gutem Gewissen ferngesehen, denn schließlich hätten wir unseren Beitrag bereits geleistet. Sie rührte sich den ganzen Nachmittag nicht vom Bildschirm und rückte immer näher heran, weil sie hoffte, Thea entdecken zu können.
    Mir hingegen war von einem Moment auf den anderen so jämmerlich zumute geworden, daß ich am liebsten losgeheult und alles gebeichtet hätte, in der Hoffnung, Michaela werde sich meiner erbarmen und die Pistole wieder aus meinem Leben entfernen. Ich war davon überzeugt, daß es jeden Augenblick eine Hausdurchsuchung geben würde. Ich machte dem Schicksal ein Angebot, indem ich die Pistole auf meine Liege warf, die Tür angelehnt ließ und in die Küche ging. Tatsächlich rief mich Michaela, doch nur, weil gerade der Salzstangenknacker aus Theas Wohnung sprach. Der gab sich den Anschein großer Nachdenklichkeit und Sorge. Dazu wiegte er seinen schmalen Kopf hin und her, als sollte man ihn sich von allen Seiten einprägen. Ich streckte den Arm aus, zielte über meinen Zeigefinger und ließ meinen aufgestellten Daumen nach vorne kippen – »Paff!«. Michaela lachte.
    Ich legte die Pistole in den Schrank auf die Manuskriptmappen und setzte mich zu Michaela. Mein

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