Neue Leben: Roman (German Edition)
der täglichen Berichterstattung einen fanatischen Ekel vor der Endlichkeit schüren. Wer kein ewiges Leben mehr hat, so das Fazit, ist a priori skrupellos.
Mein Held spricht über seine Todesangst und das Grauen, das der Gedanke an den Tod in ihm auslöst, weil er den anderen fremd ist. In immer neuen Ansätzen umkreiste ich den Augenblick des Todes, die Untröstlichkeit, wenn man eine Erfahrung allein machen muß. 334
Was mich belebte, war auch die Hoffnung, wieder in die Deutsche Bücherei zurückkehren zu dürfen. Ich sah mich bereits die gesamte medizinische Fachliteratur durchpflügen. Waren nicht Körper und Tod die letzten Themen, die mir geblieben waren?
Michaela, die spät von der Hauptprobe kam, war überrascht, mich am Schreibtisch zu finden. Sie lächelte und ging gleich ins Bett.
Am Mittwoch weckte uns Robert frühmorgens. Er stand im Zimmer und rief etwas. Ich sah als erstes Michaelas Waden. Michaela rannte! Und dann hörte ich – viel zu laut – das Radio.
Roberts Stimme, das grelle Lampenlicht, der Wetterbericht – plötzlich schämte ich mich unendlich, der Versuchung zu schreiben nachgegeben zu haben. Jetzt verstand ich, was Robert rief.
Den Fall der Mauer empfand ich als harte, doch gerechte Strafe für meinen Rückfall. Ich zog mir die Bettdecke über den Kopf.
»Jetzt kommt keiner mehr zur Demo«, murrte Michaela. Später glaubte ich, ihre Absätze auf den Fußwegplatten zu hören. Allein gelassen, erlag ich dem Gefühl, persönlich für den Fall der Mauer verantwortlich zu sein, weil ich gezögert hatte, weil ich es nicht fertiggebracht hatte, einfach abzudrücken. Nicht mal in die Nähe einer Tat war ich gekommen. Das also war das 6:3, das unfaßbare fünfte Tor in der zweiten Halbzeit, das Aus, das K. o.
Beinah heiter kehrte Michaela zurück. Sie hatte ihre Mutter aus dem Bett geklingelt und erzählte, wie eigenartig ihr zumute gewesen sei, ES jemandem zu sagen, wie merkwürdig dieser Moment war, da der andere noch ahnungslos in der alten Welt lebe.
Auf der Generalprobe, an die ich sonst keine Erinnerung mehr habe, sagte ich in Anwesenheit von Jonas und Norbert Maria Richter, daß ich von einer Premiere abrate. Jonas stimmte mir zu, stellte es aber Norbert Maria Richter frei, ob er seine Inszenierung zur Aufführung bringe.
Michaela nannte mich daraufhin einen Verräter. »Ich lebe mit einem Verräter zusammen!« Ich suchte wohl Streit, ich wolle wohl nur noch zerstören, alles, alles mutwillig zerstören, Familie, Arbeit, alles.
Michaela und ich sprachen bis zum Sonntag kaum miteinander, und wenn, dann nur über die Demonstration. Ich bat sie, für meine Rede auf dem Markt höchstens zwei Minuten einzuplanen. Sie fragte, worüber ich denn sprechen würde. »Über die Zukunft«, sagte ich, eine Bemerkung, die mir selbst absurd vorkam, weil ich überhaupt keine Zukunft mehr sah.
Zur Demonstration kamen nur halb so viele wie am 4. November. Vor der Villa der Staatssicherheit und der SED -Kreisleitung gab es wieder Katzenmusik, aber niemand blieb stehen. Überall waren Ordner – Michaela hatte die weißen Armbinden verteilt, trug selbst eine und hatte auch Robert und mir eine angetragen. Ich sah den dicken Polizisten vom letzten Sonnabend wieder, Schwarz und Blond jedoch zeigten sich nicht.
Als der Demonstrationszug auf den Markt schwenkte, sah ich vor der Rednertribüne rote Fahnen und DDR -Fahnen in einer Gruppe von hundert oder zweihundert Leuten, fast ausschließlich Frauen. Sie trugen auch alte Transparente und Schilder: »Die DDR – mein Vaterland« oder »Sozialismus und Frieden«.
Ein kleiner Schnauzbart umkreiste den Haufen und rief: »Zusammenbleiben, zusammenbleiben«, obwohl sich niemand von ihnen bewegte. Der rote Haufen wurde umstellt, und ein nicht enden wollendes »Schämt euch was!« ging auf sie nieder. Sie schwenkten ihre Fahnen.
Vom Rednerpult aus bemerkte ich die wütenden, aber auch ängstlichen Blicke dieser Frauen. Eine von ihnen, ganz vorn, hatte ihre Stirn an die Schulter ihrer Nachbarin gelehnt und schluchzte. Ihnen, liebe Nicoletta, mag es merkwürdig erscheinen, wenn ich behaupte, in diesen Frauen zum ersten Mal Menschen begegnet zu sein, die aus freien Stücken für die DDR eintraten.
Ich hatte mir einen Zettel mit Stichpunkten gemacht, Michaela sollte nicht glauben, ich nähme die Sache zu leicht.
Während meiner kleinen Rede habe ich immer nur auf die Frauen gesehen. Ich sprach zu ihnen wie ein Arzt, der versucht, ihnen die notwendigen
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