Neue Leben: Roman (German Edition)
ich mir selbst aussuchen durfte – und erkannte in dem Moment unseren alten Bekannten, den D-Mark-Obsthändler, der Robert geholfen hatte, die ersten Zeitungen zu verkaufen. Er kam mir vor wie eine Märchenfigur, so lang her erschien mir unsere letzte Begegnung. Er begrüßte uns freundlich, doch seine Stimmung war miserabel. Er habe heute nochkeine hundert Mark Umsatz gemacht. Nicht einmal die Standgebühr werde er verdienen. Es sei hoffnungslos, aussichtslos! Unter den Blicken der Umstehenden griff ich überhastet, ja wahllos zu, als müßte ich jede einmal berührte Frucht auch nehmen. Ich zahlte mit einem Zehnmarkschein und hielt ihm die flache Hand hin, auf die er mir das Wechselgeld legte. Robert bekam eine Banane geschenkt, die er mir gleich zusteckte, weil es ihn genierte.
Die ganze Stadt war eine soeben eröffnete Ausstellung, durch die wir als Besucher schlenderten. Meine Obsttüte wurde bemerkt, so wie auch ich jedes gefüllte Netz, jeden halbwegs vollen Beutel registrierte. Die Luft über dem Markt schien von der Erwartung und Nervosität der Leute zu flimmern.
Der Ratskeller war vollkommen leer. Nicht viel hatte gefehlt und ich hätte mich unter Hinweis auf die offene Tür für unser Eindringen entschuldigt, als uns die Kellnerin bat, Platz zu nehmen, wo immer wir wollten, und jedem von uns eine Speisekarte reichte.
Robert und ich hatten kaum miteinander gesprochen. Gedankenverloren war er neben mir hergelaufen. Er kaute auf seiner Unterlippe und verzog die Mundwinkel. Ich fragte, wo sie denn in den Ferien gewesen seien. Er antwortete einsilbig. Ich vermutete Ärger zu Hause, irgend etwas mit Barrista, und argwöhnte schon, Robert wolle bei uns einziehen. Ich fragte ihn schließlich, was denn passiert sei. Da hob er den Kopf und sah mich an. Im selben Augenblick kam sein Bauernfrühstück. Als die Kellnerin gegangen war, rann ihm eine Träne über die Wange.
Ich weiß nicht, was ich von der Sache halten soll. Selbst wenn ich das, was offensichtlich Einbildung ist, wegstreiche, bleibt seine Erzählung phantastisch genug.
Sie waren in Dänemark an der Ostsee gewesen. Roberts Beschreibungen nach muß das Hotel ein kleines Schloß gewesen sein. Vom Flugplatz – Barrista reist nur noch durch die Lüfte –ging es mit der Kutsche weiter, Autos dürfen nicht in das Naturschutzgebiet.
An der Schloßtreppe waren sie von einer Schar livrierter Diener in Empfang genommen worden, die ihnen jedes Gepäckstück, selbst Roberts alten Campingbeutel, auf die Zimmer getragen hatten, Zimmer mit Terrasse und Blick aufs Meer. Er könne sich gar nicht entscheiden, was das Schönste gewesen sei: auf der Terrasse zu sitzen oder am Strand zu liegen, mit der Kutsche oder mit dem Boot zu fahren, auf dem Zimmer zu frühstücken oder in den prächtigen Speisesaal zu gehen. Er hat auch Tennisstunden genommen und mit Barrista und Michaela Minigolf gespielt. Beim Frühstück hätten Kellner ihm jeden Teller, kaum daß er ein Brötchen davon gegessen hatte, wieder entführt und ihm einen neuen hingestellt. Ihm sei es allerdings unangenehm gewesen, daß Mädchen und Jungen, von denen er glaubte, sie seien kaum älter als er gewesen, sich sogar nachts für die Gäste bereit zu halten hatten und auf den roten Samtpolstern im Foyer einnickten, um bleich aus dem Schlaf aufzuschrecken, sobald sie Schritte hörten. Am Strand habe er sich mit einigen Gleichaltrigen angefreundet, sei einmal sogar auf ein Segelboot eingeladen worden.
In der Nacht von Sonnabend auf Sonntag habe es ein Feuerwerk gegeben, prächtiger als zu Silvester, wie er sagte. Er habe ein paar seiner Strandbekanntschaften dazu eingeladen. Sie hätten ein bißchen viel getrunken. Michaela habe die anderen schnell verabschiedet und ihn aufs Zimmer geschickt.
Müde sei er nicht gewesen. Er habe auf der Terrasse gestanden und dem »Meer zugehört«, wie er sagte.
Plötzlich leuchtete die Lampe auf seinem Nachttisch auf. Er habe sich einem jungen Zimmerkellner gegenübergesehen. Seine Verwunderung aber sei noch größer geworden, als dieser sein Käppchen abgenommen und sein Haar über die Schultern habefallen lassen. Er bzw. sie habe ihn nur angesehen. Flehentlich sei ihr Blick gewesen, das Lächeln müde. Dann habe sie das Licht gelöscht, sich mit wenigen Handgriffen ihrer Montur entledigt und sei in sein Bett gestiegen.
»Ich machte wieder Licht. Ich fragte, wer sie sei und was sie wolle. Aber sie schloß einfach die Augen. Erst als ich ihre Hand nahm, hat sie die
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