Neue Leben: Roman (German Edition)
sehen viel schöner aus. Das schönste aber ist, daß wir alles, was wir sonst noch brauchen und wünschen, gemeinsam kaufen werden. Während Du das liest, werde ich neben Dir liegen und Deinen Rücken streicheln und die schönsten Schulterblätter der Welt küssen!
Verotschka, keine sechzehn Stunden mehr.
Mittwoch, 4. 7. 90
Liebe Nicoletta! 354
In der Leere werden Worte überflüssig. Heute, da mir die lebendige Empfindung für jenen Zustand abhanden gekommen ist, erscheine ich mir selbst wie ein zufälliger Zeuge, der unsicher und widersprüchlich auf Nachfragen antwortet.
Beinah täglich hatte ich mein Krankenlager zu verteidigen. Einmal standen Irene und Ramona, meine Kolleginnen aus der Dramaturgie, vor der Tür. Sie schienen enttäuscht, alles so vorzufinden, wie es ihnen Michaela geschildert hatte. Sie war ihnen voran hereinmarschiert, hatte das Fenster aufgerissen und eine Decke über den Schlafsack geworfen, als würde es mir sonst zu kalt werden. Später beklagte sie sich über mein Aussehen und das Chaos im Zimmer. Michaela hielt mir vor, die beiden in eine peinliche Lage gebracht zu haben! Das mag so gewesen sein, doch meine Pein war ungleich größer. Der Schweiß brach mir aus, als ich Irene mit dem Blumentopf aus der Dramaturgie erblickte. Er habe sich prächtig gemacht und sollte mir als Beispiel dienen. Ich hielt das für eine Anspielung, einen diskreten Hinweis auf die Patronen im Topf. 355 Als Michaela das Zimmer verließ,erwartete ich, zur Rede gestellt zu werden. Sollte ich leugnen? Sollte ich sie ins Vertrauen ziehen? Doch nichts geschah, und bald verabschiedeten sie sich.
Als ich gerade die Blumenerde untersuchen wollte, kam Ramona zurück. Ob ich ihr nicht etwas anvertrauen wolle, etwas, was mir auf der Seele laste und mich quäle. Dabei sah sie mich an, als wollte sie mit mir beten. Ich schwieg und blickte direkt in ihre Nasenlöcher, das linke war schmal in der Form eines Bumerangs, das andere ein kreisrunder Krater. Ramona schniefte und ging.
Die Patronen fanden sich vollzählig im Blumentopf, und nichts deutete auf eine Entdeckung hin.
Kurz vor Weihnachten erhandelte ich mir zwei weitere Wochen Krankschreibung. Ich mußte versprechen, im neuen Jahr, sollte keine Besserung eintreten, einen Psychiater oder Neurologen aufzusuchen. Dr. Weiß empfahl mir Spaziergänge, überhaupt Bewegung und frische Luft. Er ahnte nicht, wie sehr mich seine Bemerkung, nun würden ja die Tage wieder länger, bestürzte. Schon immer habe ich mich über Regen mehr gefreut als über blauen Himmel. Doch die Vorstellung von hellen warmen Abenden, von Vogelgezwitscher und Badegeschrei, überhaupt der Gedanke an Ostern und große Ferien, war mir unerträglich.
Dann Weihnachten. Natürlich hatte ich keine Geschenke. Außerdem weigerte ich mich, wieder bei Michaela zu schlafen, um ihrer oder meiner Mutter mein Zimmer zu überlassen.
Mutter, die in Dresden keine Demonstration versäumt hatte und, einem Aufruf im Radio folgend, sogar in die Bautzner Straße gefahren war, um die Staatssicherheit zu besetzen, bewunderte Michaela. Michaela war wirklich Schauspielerin geworden. Michaela spielte Hauptrollen! Michaela zog ihren Jungen allein groß, und überhaupt war Michaela außerordentlich. Zum Beweis reichte Mutter mir die ersten beiden Ausgaben des »klartext«,die unter Michaelas Leitung entstanden waren und von denen ich keine Ahnung hatte, obwohl die Treffen der »Mediengruppe« sozusagen vor meiner Zimmertür stattgefunden hatten. Zweitausend Exemplare waren sie innerhalb von Stunden losgeworden. Mutter bestand darauf, mir zumindest den Artikel über die Ratsbibliothek vorzulesen, die von Schalck-Golodkowskis Leuten in den Westen verscherbelt worden war. Ich dagegen hatte es nicht mal fertiggebracht, die Türchen an Mutters Adventskalender zu öffnen.
Robert hatte sich als einziger mit meinem Zustand abgefunden. Er fragte nicht mehr, was ich denn hätte, und genoß es, mir in jeder Hinsicht überlegen zu sein.
In der Silvesternacht sah ich Robert und Michaela dabei zu, wie sie ihre drei Raketen abfeuerten, applaudierte und verzog mich kurz nach Mitternacht in meinen Schlafsack, wo ich das Zischen und Knallen nachgeahmt haben soll. Später übergab ich mich. Als es dämmerte, hockte ich auf dem Klo und starrte hinaus. Das Morgengrauen entsprach genau meiner Vorstellung von Zukunft. Ein komplettes Jahr mit all seinen Tagen erwartete mich, mich, dessen Kräfte nicht mal für die ersten Stunden
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