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Neue Leben: Roman (German Edition)

Neue Leben: Roman (German Edition)

Titel: Neue Leben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingo Schulze
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reichten.
    Ich ahnte, daß es einer Tat bedurfte, um mich vor dem Untergang zu retten. Mehr als einmal hatte ich bereits mit der rechten Hand meine Stirn berührt, um ein Kreuz zu schlagen.
    Was hielt mich davon ab? Trotz? Selbstachtung? Stolz? War nicht gerade Gott mein Problem, seine Ewigkeit? Gibt es denn etwas, was dem Leben feindlicher gesonnen ist als die Unsterblichkeit, die Unsterblichkeit der Heiligen wie die der Künstler? Künstler wie Heilige sind Egomanen. Einer, der sich wirklich opferte, der anstelle eines anderen in die Hölle ginge, das wäre ein Heiliger! Judas ist der einzige, dessen Legende vielleicht einen solchen Schluß zuläßt.
    Hätte ich beichten sollen? Ich wollte keine Worte mehr, kein Gerede, keine Verheißung! Ich hatte die Andacht der Worte satt, ihre vermessene Überheblichkeit noch in der unterwürfigsten Geste ekelte mich an. Nur kein Gebet mehr, kein Bekenntnis! 356 Nein, etwas ganz anderes mußte es sein, etwas, was so unerwartet wie naheliegend war, etwas, was ich noch nie getan, woran ich noch nie gedacht hatte, eben etwas anderes.
    In der Nacht vom ersten auf den zweiten Januar, ich hatte wie immer sehr früh das Licht ausgemacht, erwachte ich kurz nach zehn. Ich öffnete das Fenster, kein Schnee, kein Regen. Ich erwartete von mir nichts weiter, als die Decke wieder über die Schultern zu ziehen und weiterzuschlafen. Im nächsten Moment aber sah ich mich neben dem Bett stehen und in meine Hose steigen. Ich lachte über mich, etwas in mir lachte über mich selbst. Trotzdem zog ich mich weiter an, pulte die Munition aus der Erde, lud das Magazin und steckte die Pistole in den Gürtel. 357 Aus dem Schrank nahm ich zwei Pullover und meine alten Wanderschuhe. Die Pullover zog ich übereinander, die Schuhe schnürte ich bis zu den obersten Ösen zu. Dann stieg ich aufs Fensterbrett. Meine Augen waren an das Dunkel gewöhnt, ich sah den Rasen, sprang – und kam mit beiden Füßen gleichzeitig auf. Kein Schmerz, keine Steifheit, der Sprung war getan.
    Ich marschierte durch Nord, über den Lerchenberg und durch die Stadt, ohne jemandem zu begegnen. Entfernt huschten ein paar Gestalten dahin, ansonsten nur Autos. Dann passierte ich den Großen Teich, bog an einer Kfz-Werkstatt halb linkshinauf und hatte die Häuser bald hinter mir. 358 Ein paar Schneeinseln schimmerten aus dem Schwarz der Felder hervor. Als die Straße abfiel, sah ich nur wenige und weit entfernte Lichter. Entweder gab es hier keine Straßenbeleuchtung mehr, oder sie war bereits ausgeschaltet. Hin und wieder fuhr ein Auto vorbei, der Dreck spritzte gegen meine Hose. Ein Auto, das mir im letzten Moment ausgewichen war, hielt, setzte zurück. »Bist du lebensmüde?« brüllte der Fahrer. War ich lebensmüde? Hätte ich gewollt – ich hätte mir eine Kugel durch den Kopf jagen können, ein Luxus, der mich erschreckte.
    Im Tal bog ich in einen Feldweg ein, der zu einem Hügel führte. 359 Plötzlich blinkte fünfzig oder hundert Meter vor mir ein rotes Auge auf. Durch den geröteten Dunst sanken die Schranken herab. Ich zwang mich weiterzugehen, immer weiter, bis an die Schranke heran. Der Zug kam schnell näher, ein Güterzug mit leeren Kohlewaggons holperte vorüber, und schon hob sich die Schranke wieder, das Warnlicht verlosch. Die Nacht fiel auf mich nieder. Ich starrte ins Schwarz, dorthin, wo eben noch ein rötlicher Schimmer auf den Schienen gelegen hatte. Meine Augen wollten sich nicht mehr ans Dunkel gewöhnen.
    Tastend wagte ich mich hinüber, erkundete mit der Fußspitze die Schienen und sah dann wenigstens genug, um den Pfützen ausweichen zu können.
    Ich ging weiter. Ahnen Sie, was ich suchte?
    Eine Kreuzung, einen Kreuzweg 360 , möglichst abgelegen. Nacheinigen hundert Metern, als der Mond erschien, führte mich der Weg an eine schmale Asphaltstraße.
    Von allen Menschen, die je einen Kreuzweg aufgesucht hatten, war ich wohl der einzige, der nicht einmal vage hätte sagen können, was er wollte. Dann wieder verging ich beinah vor Scham bei der Vorstellung, jemand könnte von meinem Treiben erfahren.
    Ich wartete. Mein Atem ging schnell, ich schwitzte. Woher auf einmal diese Angst? Was, wenn ein wild gewordener Hund auf mich zukäme oder ein tollwütiger Fuchs? Würde ich schießen?
    Aushalten, stillstehen, ermutigte ich mich, nichts anderes hast du zu tun. Hier gehst du nicht weg.
    Die Augenblicke und Minuten spulten sich ab, die Zeit drehte und kreiste. Es hatte schon Mitternacht geschlagen und dann halb

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