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Neue Leben: Roman (German Edition)

Neue Leben: Roman (German Edition)

Titel: Neue Leben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingo Schulze
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eins. Die Kälte kroch an mir hoch. Ich mußte husten. Der Himmel wurde schwarz. Aufzuschauen war mir unangenehm, als böte ich meine Kehle dar. Stark sein heißt stillstehen, aushalten, wiederholte ich.
    Natürlich passierte nichts! Glauben Sie etwa, ich hätte wirklich auf irgend etwas gewartet?
    Als der Mond hervorkam, versuchte ich mir die wenigen Quadratmeter innerhalb meines Blickfeldes einzuprägen: poröser Asphalt, der an den Rändern kleine Fjorde bildete. An einer Stelle war er so dünn, daß sich das darunterliegende Kopfsteinpflaster wie ein Netz abzeichnete. Zwei mickrige Bäume auf der anderen Seite, rundherum Unkraut und Äcker mit Wintersaat und verharschten Schneeinseln.
    Wie groß aber war mein Erstaunen, als ich im Mondlicht gen Süden einen Berg erkannte, der steil aus der Landschaft ragte, ein halsloser Kopf, die Bäume deuteten das Haar an, zwei Serpentinenwege die Stirnfalten … da glotzte mich tatsächlich etwas aus Augenhöhlen an 361 – und verschwand im nächsten Moment, trat erneut hervor, verging. Das Ganze schien sich nach links zu neigen, bildete sich um und um wie Wolken. Mal erkannte ich den Mund und die stumpfe Nase sofort, dann wieder senkte sich ein Schleier darüber.
    Plötzlich fror ich, meine Füße schienen zu schrumpfen, ich wunderte mich, warum ich nicht schwankte oder hinfiel. Es war nach eins oder halb zwei, als ich auf der Stelle zu treten begann. Schließlich lief ich ein paar Schritte hin und her, hob ein Stöckchen auf und zog einen Kreis um mich, wie ich es als Kind beim »Landmausen«-Spiel gemacht hatte.
    Ich nieste, noch einmal und noch einmal. Ich war dabei, mich zu erkälten, mein Lachen klang heiser. Geschah etwas, oder geschah nichts?
    Sollte ich den leichten Wind und das entfernte Hundebellen als Antwort nehmen? Ich hatte Lust zu singen. »Der Mond ist aufgegangen«, begann ich, dann, etwas lauter, »die goldnen Sternlein prangen am Himmel hell und klar.« Ich stockte und fuhr mit dem fort, was mir gerade einfiel. »Wie eine stille Kammer, wo ihr des Tages Jammer verschlafen und vergessen sollt.« Dann: »Es war eine Mutter, die hatte vier Kinder, den Frühling, den Sommer, den Herbst und den Winter.« Dieses Kinderlied war das einzige, das ich von Anfang bis Ende konnte. Ich wiederholte es mehrmals. Später begann ich zu zählen, zählen konnte ich bis an mein Lebensende …
    Ich fuhr herum. Kein Schrei, kein wölfisches Heulen hätten mein Blut tiefer gefrieren lassen als jenes Zirpen. Ich war überzeugt, eine Grille gehört zu haben, eine Grille unmittelbar neben mir im Gras. Ich lauschte, schnappte nach Luft, lauschte. Die Stille war wie ein Bernstein, der das Zirpen umschloß.
    »Ach«, seufzte ich, und noch einmal, »ach!« In diesem Augenblick verstand ich, was ich wollte: Es war nicht mehr und nicht weniger als
mein Leben
. Ich wollte
mein Leben
zurück, jenes, an das ich kaum Erinnerungen besaß, das ich viel zu früh weggegeben hatte. Alles, was ich getan hatte – ich wußte es doch längst –, war kein Leben gewesen, sondern ein grobes Mißverständnis, eine Verirrung, ein Wahn!
    Ich wollte endlich wissen, wer ich war, wenn nicht der, für den ich mich die ganze Zeit gehalten hatte. Egal was sich mir offenbarte! Ich würde es annehmen. Für ein neues Leben würde ich alles geben, alles!
    Ich griff nach der Pistole. Sie war warm. Eine Weile behielt ich sie in Händen, dann schleuderte ich sie mit aller Kraft von mir. 362 Mir schien sie das einzige zu sein, was ich zum Tausch anbieten konnte. Ich hörte ihren Aufschlag nicht. Die Stille drückte auf meine Schultern, die Stille füllte mir die Ohren.
    Dann wieder das Bellen, diesmal länger, ein anderes kam dazu, noch eins, ein Hund weckte den anderen, dann wieder Schweigen – wie ein Hieb. Das Scharren meiner Sohlen war entsetzlich laut. Ich. Nichts als Stille und Leere, in der ich die Augen aufriß.
    »Was, zum Teufel, ist daran so schlimm?!« Was, so fragte ich mich, war denn wünschenswerter, als leer zu sein, geleert, gereinigtvom Wahn der Worte und des Ruhmes, von Jenseits und Unsterblichkeit. War es nicht herrlich, all das los zu sein?
    Was ich für Krankheit gehalten hatte, war es nicht Heilung? Hatte ich mir denn nicht etwas gewünscht, was mehr sein sollte als Erkenntnis? War ich nicht endlich frei zu tun, was ich wollte, alles hinter mir, alles vor mir!
    Ich hatte Durst, ich verlor den Faden meines Denkens. Nur Kälte, Kälte innen und außen.
    Lüge ich nicht, wenn ich so viel

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