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Neue Leben: Roman (German Edition)

Neue Leben: Roman (German Edition)

Titel: Neue Leben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingo Schulze
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Faßliches mitteile? Solche Stunden lassen sich weder greifen noch begreifen, sie sind heimisch allein in der Nacht, die das Innerste nach außen kehrt.
    Ich habe keine Ahnung, wie lange ich dort aushielt. Die Kirchturmuhren hatten aufgehört zu schlagen. Kein Rascheln mehr, kein Bellen irgendwo in der Ferne.
    Irgendwann begann das Rumoren. Ich fürchtete mich nicht, eher fühlte ich mich gestört. Zwei Lichtpunkte erschienen, zwei leuchtende Augen, die sich in der Finsternis geöffnet hatten. Das Rumoren näherte sich von überall her, es stampfte über den Acker, durch die Luft. Bald tauchte hinter dem ersten ein zweites Paar leuchtender Augen auf, dann ein drittes, ein viertes. Es schien, als schwebten sie über der Erde, so schnell kamen sie heran. Plötzlich war alles eins: geblendet verbarg ich die Augen in der Armbeuge, wußte nicht mehr, wo die Straße war, mußte ich zurück oder nach vorn – und im selben Augenblick diese Sirene, eine Schiffssirene, die Posaune des Jüngsten Tags! Vier Fernlaster auf ihrer Irrfahrt zwischen Autobahn und Fernstraße donnerten an mir vorbei, ihr Luftsog erfaßte mich, wirbelte mich herum und ließ mich taumeln. Ein paar Schritte stolperte ich ihnen nach; das aber reichte schon, der Bann war gebrochen. Ich setzte wieder einen Fuß vor den anderen auf dem Weg nach Haus.
    Als ich erwachte, war es zwölf. Hatte ich geträumt? Es war Mittag, ein stiller heller Mittag. In meinem Zimmer lagenschlammverkrustete Wanderschuhe und eine dreckbespritzte Hose. Ich erschrak darüber, doch nur für einen Augenblick.
    Wie immer
    Ihr
    Enrico Türmer

 
     
    Freitag, 6. 7. 90
     
    Armer Jo!
    Jetzt verpaßt Du wirklich was. Das Gerede vom »ganz besonderen Menschen« fand ich immer unerträglich, aber als wir ihm dann tatsächlich begegneten, sind Vera und ich ihm vom ersten Blick an verfallen: seine zarte Statur, die hellen Augen, sein schöner Kopf, seine »durchgebildeten« Hände. Seine Manierlichkeit brachte mir den lang vergessenen Begriff der gelungenen Fürstenerziehung wieder in den Sinn. Trotz seines hohen Alters wirkt er jungenhaft, daran kann nicht mal der Rollstuhl, in dem zu sitzen er meistens gezwungen ist, etwas ändern.
    Das Programm entspricht ganz seinen Vorlieben, jedoch hat niemand geahnt, daß ihn (»Nennen Sie mich einfach Erbprinz«) eine Dreiraum-Neubauwohnung in Nord mehr interessiert als das Schloß. Die Stadt hat er 1935 das letzte Mal gesehen. Nur den Baron behandelt er vergleichsweise herablassend. Dessen Einflüsterungen und Erläuterungen beantwortet er kaum mit einem Nicken. Häufig unterbricht er ihn, indem er sich vorbeugt, die Hand ausstreckt und jemanden in seiner Nähe in freundlichster Weise anspricht.
    Andy, Massimo und der Baron wechseln sich darin ab, seinen Rollstuhl zu schieben, Olimpia (Andys Frau), Michaela und Verasind sein Hofstaat, doch auch Mutter, Cornelia und ich gehören zu seinem Gefolge – und natürlich Robert.
    Niemand spricht es aus, doch ich glaube, der Erbprinz ist schwul, jedenfalls hat er nie geheiratet, ist kinderlos und scheint überhaupt zu filigran für ein Familienleben.
    Eigentlich wollte der Baron ihn auf unseren Coup vorbereiten, aber auch mir schien es dann besser, den Erbprinzen selbst ins Vertrauen zu ziehen. Unser Dilemma ist, daß wir am Freitag abend die Zeitung abliefern müssen, wenn wir sie am Sonnabend spät haben wollen, um sie am Sonntag in aller Frühe zu verteilen. Unsere Berichte kämen sonst eine Woche zu spät, und andere würden die Früchte unserer Arbeit ernten. Also haben wir über den Sonnabend, vor allem über den großen Empfang am Nachmittag und über die Inthronisierung der Madonna im Museum bereits im voraus geschrieben.
    Der Erbprinz lächelte fast schelmisch, bat darum, den Artikel über die nahe Zukunft lesen zu dürfen, damit er seinen Teil für die Verwirklichung unserer Prophezeiung leisten könne. Er bemerkte sehr wohl, wie mir seine Formulierungen einheizten, aber mit den liebenswürdigsten Worten – er werde gern alles tun, was uns helfe und nütze, er stehe ohnehin in unserer Schuld – beruhigte er mich wieder. Aus Dankbarkeit hätte ich ihm am liebsten seine schönen Hände geküßt.
    Wir fuhren ihn dann aufs Schloß, um ihn, zur selben Uhrzeit, zu der morgen der Empfang beginnt, inmitten der Menge zu photographieren – inmitten von Barristas Heerscharen, inklusive Proharsky und Recklewitz-Münzner samt Familien. Dazu die Zeitungsredaktion ohne Marion und Pringel, aber mit Jörg, der

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