Neue Leben: Roman (German Edition)
herein, über die eine durchsichtige Plasteglocke gestülpt war, mit einem roten Knopf in der Mitte als Griff.
»Trinken wir erst mal einen«, sagte ich.
»Viel Spaß«, rief Michaela, öffnete die Wohnungstür und zog sie, noch bevor einer von uns etwas sagen konnte, hinter sich zu.
Tante Trockel und ich aßen die Torte ohne Teller, direkt von dem Boden ihres Gehäuses. Wir achteten darauf, dasselbe Tempo zu halten. Beide trugen wir unsere Stücke von der Mitte her ab.
Ich weiß nicht, ob Sie sich das vorstellen können: Doch als ich mich gemeinsam mit dieser dickbäuchigen, verhutzelten Alten über die Reste der Torte hermachte, fühlte ich mich auf eine unerwartete Art und Weise frei, ja befreit; befreit von allem Druck, aller Hetze, allen Ansprüchen. Eine wundersame Ruhe hielt Einzug, ein Frieden, den ich der Wirkung des Alkohols zuschrieb.
Morgens erwachte ich gegen vier aus einem traumlosen, tiefen Schlaf, der mich vollkommen erfrischt und auch den letzten Rest Müdigkeit von mir genommen hatte.
Meine »gute Laune« reizte Michaela. Sie zu quälen bereite mir offenbar Vergnügen, behauptete sie. Was ich auch tat und sagte, es bot Anlaß zu Vorwurf und Kritik.
Und dann begann es zu schneien, es schneite den ganzen Abend und die ganze Nacht und auch noch den nächsten Vormittag. Vor dem Fenster sah ich Kinder mit Schlitten. Unser Nachbar schippte Schnee.
In den letzten Wochen hatte ich dem Wetter keinerlei Beachtung geschenkt, jetzt aber freute ich mich wie ein Kind über die weiße Pracht. Ich wollte hinaus und zog mich an. Robert rief, er komme mit.
Als Michaela, die im Bett lag und Text lernte, uns hinausgehen sah, zog auch sie sich an.
Wir waren ein merkwürdiges Trio. Robert rannte vorneweg,ich hinter ihm her und mir dicht auf den Fersen Michaela. Sobald Robert außer Hörweite war, begann sie zu zetern, wieso ich mich plötzlich für Robert interessiere und ob ich ihr den Jungen abspenstig machen wolle. »Warum bist du so? Was hab ich dir getan? Warum bist du so?« rief sie immer wieder.
Wir liefen querfeldein. Der Boden unter dem Schnee war nicht überall gefroren, und manchmal mußten wir rennen, um nicht einzusinken. Michaelas Gerede erschöpfte mich mehr als die körperliche Anstrengung. Gern wäre ich umgekehrt. Aber Robert wollte noch zum »Silbersee«.
Der Teich war zugefroren und spiegelglatt. Robert und Michaela schlitterten um die Wette. Mehrmals glaubte ich schon, das Eis brechen zu hören. Ich wandte mich zum Gehen, damit die beiden zusammenblieben. Als ich mich noch einmal nach ihnen umsah, traf mich ein Schneeball ins rechte Auge. Es war nicht nur Schnee, wie Michaela behauptete, jedenfalls tat es so höllisch weh, als habe ein Steinchen oder Splitter mein Auge verletzt. Ich sah nichts mehr und befürchtete das Schlimmste.
Robert nahm mich an der Hand, als müßte ich geführt werden. Er ließ meine Hand auch auf dem Feld nicht los, während Michaela mir riet, mich nicht so anzustellen.
Werden Sie mir glauben, wenn ich sage, daß ich auf dem Weg über das verschneite Feld vollkommen glücklich gewesen bin? Doch genau so war es. Ja, ich weinte, weil mein rechtes Auge so sehr schmerzte, aber viel mehr weinte ich vor Glück.
Wie soll ich es erklären?
Der Schmerz hatte mich aufgeweckt! Endlich begriff ich, was ich seit der Nacht am Kreuzweg und dem Besuch bei Tante Trockel wußte: Mein altes Leben lag hinter mir. Oder besser: Jetzt begann ich überhaupt erst zu leben.
Seit meinem Sündenfall hatte ich mit der Zeit gegeizt, kein Augenblick, in dem ich nicht ein Getriebener gewesen war, derallein dafür lebte, aus jedem Tag und jeder Stunde noch mehr Schreiben, noch mehr Literatur, Werk und Ruhm zu schinden. 378
Endlich hatte ich mich von der Kunst, von der Literatur befreit und mit ihr von der Zeit. Plötzlich war ich einfach nur noch da, um zu leben, zu genießen, ich mußte nichts mehr schaffen! 379
Es gab Robert und Michaela, den Schnee und die Luft, in der Ferne das Bellen der Hunde und die Geräusche der Straße, all das nahm ich wahr, als hätte ich soeben erst diese Erde betreten, als befände ich mich erstmalig inmitten der Welt. Ach, Nicoletta, werden Sie mich verstehen? 380
Leicht, befreit und glücklich lief ich hinter Robert her. Und als aus Oberlödla ein großer Hund auf uns zugerannt kam und Robert und Michaela sich hinter mir zu verstecken suchten, brachte ich den kläffenden Köter schnell dazu, sich an meine Knie zu drücken und die Augen zu schließen,
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