Neue Leben: Roman (German Edition)
Eindruck, den ihreansonsten mädchenhafte Figur zusätzlich beförderte. Als ich hinter Tante Trockel die Treppe hinaufstieg, konnte ich erneut ihre schlanken Waden bewundern.
Tante Trockel reichte uns Kleiderbügel, faltete ihre Hände vor dem Bauch zusammen und sagte, als wäre sie uns eine Erklärung schuldig, sie habe zuviel Schokolade gegessen und das sei nun das Ergebnis. Von dem bayrischen Begrüßungsgeld sei so gut wie alles für Schokolade draufgegangen. Nicht, daß sie nichts mehr hätte, aber wann immer ihre Nachbarn nach Hof fuhren, kauften sie in ihrem Auftrag bei Aldi zwanzig Tafeln, und sie erstatte ihnen gegen Vorlage des Kassenbons den Betrag. Habe sie die Tafeln einmal im Schrank, könne sie an nichts anderes mehr denken. Tante Trockels Stimme war unerträglich hoch geworden. Mich beunruhigte die Vehemenz ihres Redeschwalls.
Sie schaffe es einfach nicht, fuhr Tante Trockel fort, die Tafel erst am Abend zu öffnen. Im Gegenteil, sie verbrauche alle Kraft dafür, sich einen oder zwei Riegel bis zur Tagesschau aufzusparen. Gestern sei ihr das nicht gelungen, und so habe sie zwei Tafeln an einem Tag verspeist, von Überdruß könne jedenfalls keine Rede sein.
Sie trug die Vorspeise auf, Fenchel mit Mandelsplittern und Apfelsine, dazu der Aperitif in winzigen Gläsern, der Rand mit Zuckerkruste bekränzt.
Wie immer hatte sich Tante Trockel bei der Vorbereitung dieses Essens bis an die Grenze ihrer Kräfte verausgabt. Sie selbst nippte hin und wieder am Wasserglas und redete auch weiter, während sie in der Küche hantierte. Nur als sie den Rehrücken auf einer schweren Platte präsentierte, hielt sie inne, um uns Gelegenheit zu geben, ihrer Kunst zu huldigen.
Danach – mein Teller war gerade zum zweiten Mal gefüllt worden – erzählte Tante Trockel, wie eine Klassenkameradin sieeinst am Stanniolpapier habe riechen lassen, um ihr eine Ahnung davon zu geben, was Schokolade sei. Und sie, die Achtjährige, sei ihr dafür dankbar gewesen. »Stell dir das mal vor!« rief Tante Trockel und sah mich an. Sie wurde immer lauter und erzählte es so, als ginge das nur mich etwas an. Ich versuchte ihren Blick, sooft es ging, zu erwidern, wurde unsicher, als hätte ich etwas überhört, was ihre ausschließliche Ansprache begründete, und aß immer hastiger. Dann erst bemerkte ich, daß Michaela sich zurückgelehnt und die Augen geschlossen hatte. Tante Trockel saß steif auf der Sesselkante.
Nun war es an mir, ihr mit gedämpfter Stimme Michaelas Pensum der letzten Wochen vorzutragen.
»Du mußt nicht flüstern«, sagte Michaela, »aber mit geschlossenen Augen kann ich mir die kleine Annemarie Trockel, die am Stanniolpapier riecht, besser vorstellen.«
Tante Trockel vollführte einen kleinen Hüpfer auf der Sesselkante und belohnte Michaela für ihre Ausrede mit einem Lob für den »klartext«. Das gab ihr zudem Gelegenheit, von ihrer Schwägerin zu berichten, die den »klartext« deshalb nicht kaufe, weil da Thüringen draufstehe. Altenburg, habe diese gesagt, sei Sachsen und gehöre zu Sachsen, das finde sie, Tante Trockel, natürlich auch, aber das lasse sich ja ändern, also der Zeitungskopf.
Michaela fragte schließlich, was sie von den Artikeln halte. »Sehr gut«, rief Tante Trockel, »wirklich sehr gut, kritisch eben, sehr kritisch.« Sie nippte an ihrem Wasserglas und behielt es in der Hand.
Die Kritik finde sie gut? Ja, was denn sonst, das sei doch jetzt überall so. Nun komme die Wahrheit ans Licht.
Beide Frauen, so schien mir, warteten darauf, daß der Rehrücken endlich von meinem Teller verschwand.
»Nein!« schrie Michaela auf, als Tante Trockel zwei Tellermit jeweils einem Achtel Schwarzwälder Kirschtorte hereintrug. Tante Trockel knüpfte daran die Geschichte von der bestellten Schlagsahne, die man ihr trotz mehrfacher Zusicherung nicht zurückgestellt habe, weshalb sie bis zum Kaufhallenleiter vorgedrungen sei, der schließlich zum Telephon gegriffen und am Steinweg noch zwei Flaschen für sie geortet hatte. »Zwei Flaschen!« rief Michaela. Zwei Flaschen Schlagsahne seien eine Zumutung, das dürfe sie nicht tun, sich und uns so zu mästen. Michaela war selbst über ihren Ausbruch erschrocken, als Tante Trockel die Teller abstellte und auf dem Absatz kehrtmachte. Auf dem höchsten Sahnegipfel eines jeden Stückes thronte eine Maraschinokirsche, um die herum der sirupartige Likör einen Bergsee bildete. Ich sah Tante Trockel bereits mit tränenüberströmtem Gesicht, die Stirn am
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