Neue Leben: Roman (German Edition)
während ich ihm Hals und Kopf kraulte.
Das verwahrloste Tier begleitete uns bis zur Straße. Robert hatte einen Wagen angehalten, der uns in die Poliklinik brachte.Vor dem Eingang lief ich Dr. Weiß, meinem Arzt, in die Arme. Er glaubte wohl, ich hätte einen Vorwand gefunden und käme, um mich weiterhin krank schreiben zu lassen. Deshalb behandelte er mich etwas von oben herab. Doch als ich ihm sagte, daß ich, ganz gleich, was mit dem Auge sei, keine Krankschreibung wolle, und er mir fast mit Gewalt das rechte Auge öffnete, war es das freundliche Gesicht von Dr. Weiß, das ich als erstes wieder mit beiden Augen erblickte.
Damit bin ich am Ende meiner Geschichte. Was weiter geschah, wissen Sie selbst. Nun wäre die Reihe eigentlich an Ihnen. Was mich angeht, stünde einer Reise nach Rom nichts im Weg.
Ihr
Enrico Türmer
ANHANG
Die sieben im Anhang versammelten Texte fanden sich auf der Rückseite von 20 der insgesamt 33 Briefe an Nicoletta Hansen. Die rechte Hälfte der Manuskriptseiten war unbeschrieben, um Platz für Korrekturen zu lassen. So erklärt sich der im Vergleich zum jeweiligen Brief geringere Umfang. Obwohl Türmer teilweise ausführlich auf einzelne Arbeiten eingeht, nimmt er doch nie direkt Bezug auf die Rückseiten. Lediglich am Ende des Briefes vom 9. Juli findet sich eine eher fragwürdige Herleitung dieser doppelgesichtigen Blätter. Über Motive und Absichten Türmers ließe sich spekulieren. Ich habe mich darauf beschränkt, den zeitlichen Zusammenhang der »Rückseiten« mit den entsprechenden Briefen zu dokumentieren.
Die Lesbarkeit seiner Arbeiten muss Türmer offenbar wichtig gewesen sein, sonst ginge die Chronologie der Briefe nicht einher mit der Chronologie der einzelnen Prosaversuche. Der Abdruck hält sich an die von Türmer vorgegebene Reihenfolge.
I. S.
[Brief vom 9. 3. 90]
SCHNITZELJAGD
… und sende Euch viele Grüße aus Thalheim! In unserem Ferienlager ist immer was los. Nie bleibt Zeit zum Schreiben. Nur heute regnet es dauernd. Die Stimmung ist klasse. Adelheid, die unsere Gruppe leitet, hilft immer, auch wenn jemand immer noch nicht richtig sein Bett machen kann. Es ist uns ja oft genug gezeigt worden. Die Mädchen aus den andern Gruppen beneiden uns wegen Adelheid. Nur wenn abends Schluß ist und das Licht aus und wir in den Betten liegen, dann ist sie nicht mehr da.
Wir haben oft Dienst in der Küche oder Saubermachen. Ich komme mit allen gut aus. Zweimal war Tanzabend. Morgen ist wieder Tanzabend. Die Großen sind alle in Rolf verliebt, den Stellvertreter von Herrn Funke. Der hat ein Moped und Helm. Herr Funke sagt immer: Sein Rolf ist seine rechte Hand. Am Gedenkstein hat Rolf Trompete gespielt, um alle Opfer zu ehren. Davor machten wir Subbotnik und jäteten Unkraut.
Gestern war Schnitzeljagd. Maik hat ganz schön geweint, als er vortreten mußte. Frau Borchert hat den Brief vorgelesen. Maik will nicht im Ferienlager sein. Frau Borchert hat ihn gefragt, was er denn zu Hause will, wo doch alle arbeiten und niemand Zeit für ihn hat und die Kinder alle im Ferienlager sind. Wir haben ganz schön lachen müssen. Herr Funke hat dann gefragt, warum er lieber zu Hause spielen will und nicht hier im Ferienlager. Er sollte sagen, was ihm nicht gefällt. Da hat er natürlich nichts gewußt. Erst solche Briefe schreiben und dann keinen Mucks rausbringen und sich nie ausmären. Adelheid sagt: Maik ist ein Kandidat fürs Abhauen. Kinder wie Maik hauen leicht mal ab,und dann müssen Polizei und alle anderen suchen gehen. Und in der Zeit kann natürlich allerhand passieren und niemand ist dann da, weil die Maik suchen müssen.
Maik hat angefangen zu heulen. Das hätte er sich eher überlegen sollen. Wir waren alle erschrocken, weil Maik gegen die Lagerordnung verstoßen hat. Herr Funke hat ihn gefragt, aber natürlich wieder kein Mucks. Herr Funke sagte, er hat keine Wahl mehr, wenn Maik nicht redet. Das hat Maik sich selbst eingebrockt. Aber eine Chance gibt er ihm noch. Da kann sich Maik bewähren und Maik hat genickt und dann hat er ja gesagt. Wir sind dann zum Sportplatz marschiert und haben Appell gemacht. Als Brigadeleiter melde ich immer die Bereitschaft. Es ist großer Mist, wenn ich als letzte melde, weil jemand aus meiner Brigade schwatzt und einfach nicht zur Ruhe kommt. Wir mußten uns mit Maik befassen. Maik hat allen gelobt, nicht abzuhauen. Da hat er was gutzumachen. Solche Briefe schreiben! Wenn die in falsche Hände fallen hat Herr Funke gesagt. Überall
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