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Neue Leben: Roman (German Edition)

Neue Leben: Roman (German Edition)

Titel: Neue Leben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingo Schulze
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Küchenfenster, da erschien sie mit einem noch größeren Stück Torte, das sie auf ihren Platz stellte. Plötzlich stand eine Flasche Obstler vor mir und drei Gläser. »Ach, Tante!« rief Michaela. Ich schenkte uns ein, wir stießen an.
    Nach dem ersten Gabelstich löste sich aus dem Maraschino-Bergsee ein Rinnsal, das sich purpurfarben durchs makellose Weiß schlängelte. Wir aßen andächtig schweigend.
    Dann tat ich etwas, was ich bei Tante Trockel nie versäumte, ich ging aufs Klo: spiegelnde, von keinem Tropfen verunzierte Armaturen, ein Klobecken, in dem der Abfluß so weiß war wie der obere Rand, eine Batterie Kämme, in denen nie ein Haar zurückblieb. Mit der Neugier eines Kindes öffnete ich jedesmal ihren Spiegelschrank, in dem es dezent nach Schlangengift und Franzbranntwein roch. Bei ihr wäre ich nie auf die Idee gekommen, im Stehen zu pinkeln.
    Plötzlich erinnerte ich mich an eine seltsame Begebenheit in meiner Kindheit. Fast im selben Moment donnerte Tante Trockel gegen die Tür und rief geradezu flehentlich meinen Namen.Mit schreckensgeweiteten Augen riß sie zwei Schlüpfer von der Leine, preßte sie an sich und flüchtete mit ihrer Beute.
    Als ich zurückkehrte, saß Tante Trockel zurückgelehnt im Sessel, die Hände neben sich, und betrachtete ihren Bauch. Michaela hielt bereits die Handtasche auf dem Schoß. »Hab ich euch schon mal das wichtigste Erlebnis meines Lebens erzählt«, fragte ich, ignorierte Michaelas Reaktion und begann einfach zu erzählen, woran ich mich gerade erinnert hatte.
    Ich war zehn oder elf Jahre alt, als mich ein Junge vom Nachbarhof überredete, mit ihm bei seiner Großmutter zu übernachten. Bei ihr dürften wir uns die Schlagerparade ansehen und danach noch einen Film. Außerdem bekämen wir dort so viele Geleebananen, wie wir wollten. Obwohl es für mich nichts Schlimmeres gab, als ohne meine Mutter und Vera bei Fremden zu übernachten, stimmte ich zu, aus Feigheit und Mangel an Argumenten. Nachdem Schlagerparade und Film vorüber waren, die Geleebananen gegessen und ich im Dunkeln in dem fremden Bett lag, umgeben von fremden Dingen und fremden Gerüchen, begann ich bitterlich in mein Kissen zu weinen. Ja ich schluchzte vor Heimweh und Sehnsucht und weil ich es immer in solchen Situationen tat. Nach einer Weile stellte ich verwundert fest: Mein Weinen hatte aufgehört. Sofort wollte ich weiterheulen, aber es ging nicht.
    »Wißt ihr, was passiert war?« fragte ich Michaela und Tante Trockel. Beide sahen mich an, als spräche ich Chinesisch.
    »Also, was war passiert?« fragte Michaela gelangweilt.
    »Ich wußte nicht mehr, warum ich geweint hatte«, rief ich. »Ich verstand selbst nicht, was denn so schlimm an meiner Situation sein sollte!«
    »Das ist dir jetzt eben eingefallen?« fragte Tante Trockel.
    »Ja«, sagte ich, »das ist mir auf dem Klo eingefallen.«
    »Na gut«, sagte Michaela, nickte Tante Trockel zu und wolltesich erheben. Da bat ich um ein zweites Stück Schwarzwälder Kirsch. Tante Trockel eilte in die Küche, Michaela ließ sich zurückfallen. Den Kopf auf der Sofalehne, sah sie zur Decke. Ich füllte unsere Gläser nach. Tante Trockel kam kichernd aus der Küche und verwechselte vor Aufregung ihren und meinen Teller, was ich an der roten Spur erkannte, die die Maraschinokirsche an meinem Tellerrand hinterlassen hatte. Tante Trockel hielt mit. Wir stießen an. Ich würde Tante Trockel zugrunde richten, empörte sich Michaela. »Wieso ich?« fragte ich. »Wieso er?« echote Tante Trockel und kicherte. »Das ist tödlich!« rief Michaela und zeigte auf Tante Trockels Teller.
    »Soviel ich weiß«, sagte ich, »haben Schwangere da nichts zu befürchten.« Michaela erstarrte. Tante Trockel warf sich zurück und begann aus vollem Hals zu lachen, so daß ein Sprühregen an Sahne und Krümeln vor ihr niederging.
    »Ihr seid verrückt«, sagte Michaela, nahm ihre Handtasche und stand auf.
    Ich hatte aber keine Lust zu gehen! Jedenfalls gab es, so fand ich, keinesfalls mehr Gründe aufzubrechen als zu bleiben. Im Gegenteil: Ich hatte Zeit! Ich mußte ja nichts mehr schreiben, nichts mehr lesen.
    »Bringen wir’s hinter uns?« fragte ich, als unsere Teller wieder leer waren. Tante Trockel nickte. »Frisch schmeckt es sowieso am besten.« Sie nahm unsere Teller und tappte in die Küche.
    Michaela starrte mich an. »Du hörst jetzt bitte auf damit«, rief sie. »Du hörst jetzt auf, du bringst sie um!« 377
    Statt der Teller trug Tante Trockel die Torte

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