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Neue Leben: Roman (German Edition)

Neue Leben: Roman (German Edition)

Titel: Neue Leben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingo Schulze
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Seine drei Getreuen stützten ihn liebevoll und sahen flehentlich zu dem Erzähler hinüber, der daraufhin verkündete: »Sie warten auf die Frischgetauften!«
    Der Haufen hatte sich geteilt. Rechter Hand, hier standen mehrheitlich Frauen, erklang ein heller Lobpreis des Herrn, von der linken Seite war ein Rhabarber-Rhabarber-Gemurmel zu hören, das die Bezeichnung »Barbaren« klanglich nahelegen sollte. Bonifatius, uns seitlich zugewandt, richtete sich bereits erwartungsvoll auf und schien den Frauen entgegenkommen zu wollen, als von hinten fürchterlich zottige Gestalten heranstürmten und mit wenigen Hieben die Begleiter des Apostels niedermachten. Aus Lobgesang wurde Wehklage.
    Alle Aufmerksamkeit galt nun dem sich zu voller Größe aufrichtenden Bonifatius. Der hielt den Angreifern, die vor seiner Erscheinung zunächst zurückgewichen waren, das große Buch entgegen. Dann aber trat der wüsteste der wüsten Gesellen hervor – ein Schwert durchfuhr das Buch und drang dem Heiligen mitten ins Herz. In der atemlosen Stille, die dem folgte, hörte ich nur den Wind im Gras und Astrids Winseln. Wir alle waren mit den Akteuren erstarrt. Ein paar weiße Haarsträhnen des Erbprinzen tanzten auf und ab.
    Bonifatius wankte, hielt sich aber noch aufrecht. Langsam sank er dann auf die Knie, seine Augen hoben sich gen Himmel. Schließlich fiel sein Oberkörper nach vorn und begrub das durchstochene Buch, das ihn nicht hatte retten können, unter sich. Ein höchst dissonantes Wehgeschrei brach aus, in das dieBarbarendarsteller, wieder in christliches Volk zurückverwandelt, einstimmten.
    Mansfeld, der Pfarrer, gut erkennbar an dem breitkrempigen Hut, hielt plötzlich das silberne, mit Edelsteinen besetzte Handreliquiar empor. War es Zufall oder Berechnung – im Sonnenlicht schien es zu erglühen und blendete uns so stark, daß auch ich die Hand vor die Augen nahm und mich abwandte. Da sah ich, daß fast alle, die mit uns das Schauspiel verfolgt hatten, niedergekniet waren. Die wenigen, die noch standen, waren zumeist ältere Leute. Astrid sprang schwanzwedelnd zwischen den Gläubigen hin und her, wohl in der Hoffnung, man wolle mit ihr spielen.
    »Spielen Sie mit«, zischte mir der Baron von unten zu. Nach einigem Zögern gab ich nach und kniete mich hin, was ich dann allerdings als überraschend entspannend und angenehm empfand.
    Singend hatte sich die Menge zu einem Zug formiert, dem das Handreliquiar feierlich vorangetragen wurde. Immer wieder brachen sich die Sonnenstrahlen auf ihm und sandten uns noch Signale, als der Gesang schon nicht mehr zu hören war und wir uns ganz der Stille und dem Anblick der hinab ins Land ziehenden Prozession überließen. Das Buch, darüber war nun Zeit genug nachzudenken, hatte Bonifatius nicht das Leben retten können, aber am Ende stand es doch im Zeichen eines Sieges. 375
    Nun wird wohl alles gut werden. Wir erwarten Euch!
    Seid umarmt
    von
    Eurem Enrico

 
     
    Mittwoch, 11. 7. 90
     
    Liebe Nicoletta!
    Wie Sie sehen, habe ich eine neue Adresse und bewohne nun vier Zimmer, dessen kleinstes größer ist als mein bisheriges Wohnzimmer. Kämen Sie in den nächsten Tagen oder Wochen, so fänden Sie mich auf der frisch begrünten Veranda, von der ich einen traumhaften Blick auf Stadt und Schloß habe. Sie sähen Altenburg und glaubten doch nicht, daß es Altenburg ist. Zum Haus gehört ein großer Obstgarten, umrankt von einer Dornröschenhecke.
    Soviel zur Gegenwart. An deren Beginn hoffe ich Sie mit dem heutigen Kapitel führen zu können.
    Leider gab es noch keine Gelegenheit, Ihnen von Tante Trockel, Roberts Kinderfrau, zu erzählen. 376 Jährlich veranstaltete sie ein »Neujahrsessen« für uns. Manchmal spielte sie uns dann auch auf dem Klavier vor.
    Nachdem mir Michaela versprochen hatte, nicht lange zu bleiben, tat ich ihr den Gefallen und begleitete sie zu Tante Trockel, Robert war zum Geburtstag seines Freundes Falk eingeladen.
    Als wir aus dem Bus stiegen, sahen wir noch, wie Tante Trockel hinter der Balkontür verschwand. Michaela beschleunigte ihre Schritte, der übliche Wettlauf begann. Im selben Moment, da Tante Trockel die Haustür öffnete, drückte Michaela auf den Klingelknopf.
    Mir fiel es schwer, das Lächeln in Tante Trockels verrunzeltem Gesicht zu erkennen. In den letzten Monaten war sie regelrecht schrumplig geworden, ihr Bauch jedoch, der sich unter dem enganliegenden Kleid wölbte, täuschte nach Form und Größe eine fortgeschrittene Schwangerschaft vor, ein

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