Neue Leben: Roman (German Edition)
Erwartung würde er wieder in seinem Bett liegen.
Die Frau bewegte ihre Füße, als seien sie eingeschlafen. Der Anhänger ihrer Kette, ein silbernes Rechteck, lag in der Mulde unterhalb des Halses. Die Haare bogen sich um die Ohrläppchen herum nach oben, so daß es schien, als hingen die tropfenförmigen Perlmuttstecker von den Haarspitzen herab. Sie war blaß wie eine Kranke.
»›Mächtig sprang die große Wahrheit des Gefühls in ihm auf‹«, rief Joachim, »›und zerbrach die Maschine in seiner Brust, Freiheit stieg hoch, selig und groß, und zerriß den Gehorsam. Niemals! Niemals! schrie es in ihm auf, eine Stimme, urmächtig und unerkannt.‹«
Wie konnte er sagen, daß er richtig fand, was Joachim tat, und selbst das Gegenteil tun? Wie konnte er Joachims Aufrichtigkeit bewundern und sich selbst ducken und lügen? Titus fühlte, daß Joachim etwas von ihm wollte und daß jetzt etwas Bedeutendes beginnen konnte, Wirklichkeit zu werden.
Plötzlich empfand er alles wie ein Schicksal, etwas, dem er sich nur zu überlassen brauchte und das ihn tragen und führen würde. Es lag noch jenseits der Worte, es war eine Melodie inmitten von Geräuschen, einer jener Augenblicke, in dem sich ein Duft für immer mit einem Ort und einer Jahreszeit verbindet.
Joachim schwieg. Titus fiel keine Frage ein. ›Hast du überhaupt einen blassen Schimmer, wovon ich spreche?‹ würde ihn Joachim gleich fragen. Titus sah zum Fenster hinaus.
»Ißt du das nicht?« Joachim hielt ihm den leeren Teller hin, und Titus schob seine Eierschecke darauf.
»Ich muß dann los«, sagte Titus.
Ohne aufzuschauen, machte sich Joachim über den Kuchen her. Titus wollte sich wieder abwenden, aber jetzt, merkte er, konnte er hinsehen, ohne etwas zu empfinden. Er versuchte sogar, die Bissen zu zählen, und war bei fünf, als die Kellnerin herantrat.
»Zusammen«, sagte er. Sie legte ihren schmalen Block auf den Tisch. Titus sah ihr in den Ausschnitt, wo die Haut nicht mehr faltig war, sondern glatt und weiß und ein klein wenig zitterte. Ohne den Blick abzuwenden, tastete er nach dem Portemonnaie. Er öffnete es – Röte schoß ihm ins Gesicht, als er sah, was er eigentlich gewußt hatte: Der Zwanzigmarkschein fehlte. Die beiden Bände von Stefan Zweig hatten vierzehn Mark gekostet.
»Joachim«, fragte Titus leise. Joachim kaute weiter.
»Gott, hilf mir!« flüsterte Titus. Erst klaubte er die Markstücke heraus, dann die beiden Fünfziger. Zum Schluß schüttete er das Kleingeld auf den Tisch, darunter drei Zwanziger. Die Kellnerin beugte sich wieder herab. Doch diesmal kam sie ihm so nah, daß er ohne Mühe den Ansatz ihrer Brüste hätte küssen können. Sie legte ihren Zeigefinger auf jede Münze und schob sie einzeln über die Tischkante, unter die sie ihr geöffnetes Portemonnaie hielt. Und jedesmal sah Titus dieses Zittern.
Plötzlich war es zu spät. Er konnte nur versuchen, die Schenkel zu spreizen. Die Kellnerin lächelte, dankte und schob das Portemonnaie unter ihre Schürze. Am liebsten hätte Titus nach ihrer Hand gegriffen. Es passierte, obwohl er wegsah, zum Fenster hinaus, vor dem der Verkehr über die Brücke donnerte. Er glaubte, seine Beine und Füße würden zucken und merkwürdige Laute seiner Kehle entfahren. Dabei saß er wie erstarrt, nicht mal sein Atem war zu hören. Und für einen Augenblick schloß er sogar voller Seligkeit die Augen.
2
Der Großvater drehte sich zur Wanduhr um. »Fünf vor elf!« wiederholte er mit vor Empörung brüchiger Stimme. Titus kniete vor dem Garderobenspiegel, weil sich eine doppelte Schleifezum Knoten verzogen hatte. »Ich war bei Frau Lapin!« rief er. »Hab ich doch gesagt!«
Der Großvater zog seine Armbanduhr aus der Hosentasche und hielt sie ihm hin. »Fünf vor elf!«
Titus trat auf die Ferse seines Schuhs und befreite so seinen Fuß. In Hausschuhen folgte er dem Großvater in die Küche, auf seinem Platz stand eine Teetasse. Das Tischtuch hing, wie immer, wenn seine Mutter Nachtdienst hatte, über der Lehne des freien Stuhls.
»Sie hat mich gemalt«, sagte Titus.
»Ach, die Lapin! Die quatscht doch nur! Elf Uhr! Weiß das deine Mutter?«
»Ja«, sagte Titus. Er hatte anderes vorgehabt, als mit dem Großvater zu streiten. Noch im Treppenhaus war er bereit gewesen, gleich wieder aufzubrechen, um durch die Nacht zu wandern. Er sehnte sich nach etwas völlig Neuem, nach etwas, woran er noch nie gedacht hatte. Seine Sachen waren naß geworden, weil es regnete und weil er
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