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Neue Leben: Roman (German Edition)

Neue Leben: Roman (German Edition)

Titel: Neue Leben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingo Schulze
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geschwitzt hatte, doch er mußte nur den Ärmel an die Nase halten und den darin nistenden Geruch von Ölfarbe und Zigarettenrauch einsaugen, um auf unerhörte Art und Weise wach zu sein.
    »Hast du gegessen?« fragte der Großvater.
    Titus nickte. Bei jeder Windböe schien die Scheibe leise zu knacken. Wenn er schon nicht durch die Nacht wanderte, wollte er wenigstens bis zum Morgen Tagebuch schreiben.
    Nachdem der Großvater auch Titus eingeschenkt und sich vier Stück Würfelzucker genommen hatte, saß er da und wartete, daß der Tee abkühlte. Fünf, höchstens zehn Minuten wollte Titus bei ihm sitzen bleiben, das sollte das letzte Zugeständnis sein. Danach würde ihn keine Macht der Welt mehr von seinem Vorhaben abbringen.
    Die braungefleckten Hände des Großvaters lagen reglos linksund rechts neben der Tasse. Wenn es ihm gutging, trommelten seine spröden, etwas bläulichen Fingernägel die Begleitung zu einer Melodie, die ihm durch den Kopf ging, meistens ein Marsch, den er sonntags um eins bei den »Lustigen Musikanten« im Deutschlandfunk gehört hatte. In seinem Gesicht gab es bis auf die kleine glänzende Warze, die links an seinem Nasenflügel wuchs, kaum Unregelmäßigkeiten. Die fächerförmigen Falten in den äußeren Augenwinkeln waren links sehr viel ausgeprägter. Wenn er vom Friseur kam, dauerte es zwei Wochen, bis die weiße Bürste nachgewachsen war. Da er täglich spazierenging, verlor sein Gesicht das ganze Jahr über nie seine Bräune.
    »Gibt’s was Neues?« fragte Titus. Gleichzeitig rührten sie in den Tassen.
    »Es ist Selbstmord gewesen.«
    »Die Terroristen?«
    »Ja«, sagte der Großvater und löffelte Tee in die ausgequetschte Zitronenhälfte, drückte sie aus und strich sie mehrmals am Tassenrand ab. Danach lagen seine Hände wieder auf der Tischkante.
    »Und bei dir?«
    »War schön«, sagte Titus, »war wunderbar!« Er sprach schon wie Gunda Lapin, die, jede Silbe wie ein Schwungrad anschiebend, »Wun-der-bar!« gerufen hatte.
    Der Großvater mochte weder Gunda Lapin noch andere Besucher, weil sie seiner Tochter nur Zeit stahlen und ihr den Kaffee wegtranken. Gunda Lapin aber hatte er einmal spätabends am Kühlschrank überrascht, wie sie sich Schinken in den Mund gestopft und dazu Bier aus der Flasche getrunken hatte.
    Fünf Minuten wollte Titus dem Großvater Gesellschaft leisten, wie das bei ihnen hieß. Immer mußte dem Großvater Gesellschaft geleistet werden, weil er den ganzen Tag allein war, weil er langsamer aß und seinen Tee genießen wollte.
    »Na, dann wolln wir mal«, sagte der Großvater, rückte mit dem Stuhl nach hinten und verzog beim Aufstehen das Gesicht. »Nacht, Titule.«
    Titus sprang auf. Aber der Großvater machte bereits mit der Tasse in Händen die ersten Schritte, weshalb Titus ihm nur bis zur Küchentür folgte, »Gute Nacht!« rief er und hörte, wie die letzte Silbe im kahlen Vorraum verhallte. Der Großvater mochte es nicht, wenn Titus ihm einen Kuß auf die Wange gab. Jedenfalls tat er immer so und kniff dabei ein Auge zu.
    Am liebsten wäre er ihm nachgelaufen. Wie konnte der Großvater ihn so plötzlich verlassen? Ihm war zum Heulen zumute, ja, am liebsten hätte er losgeheult.
    Titus verstand sich selbst nicht mehr. Er wußte auch nicht, ob er einen Augenblick zuvor an das gelbe Buch in seiner Tasche gedacht hatte oder ob es ihm erst just in dem Moment, da der Großvater aufgestanden war, wieder eingefallen war.
    Titus nahm das Tee-Ei aus dem Waschbecken, schraubte es über dem Mülleimer auf, schlug die Hälften gegeneinander, spülte sie aus und legte sie zum Abtropfen auf den Geschirrost. Im selben Moment, da er in der Küche das Licht ausmachte, ging auch die Lampe im Zimmer des Großvaters aus, der sich im Dunkeln entkleidete, so daß Titus neben der Wohnungstür nach seiner Schultasche tastete. Er hielt sie schon in der Hand, als er noch einmal Licht machte
     
    [Brief vom 10. 5. 1990]
    ein und öffnete das Schubfach, in dem er den Füller seiner Großmutter aufbewahrte, schraubte die Kappe ab und schrieb »Freitag, 31. 10. 1977, 23.34 Uhr bis«.
    Unruhig, als zählte er die Worte, bewegte er den Füller. Titus wollte weiterschreiben, seinen Gedanken hinterher, die, wenn sie zu schnell kamen, in Stichworten auf einem Schmierzettelfestgehalten werden mußten. Er hatte Lust, die Seiten mit gleichmäßigen Schwüngen zu füllen, zu schreiben, bis er alles gesagt hatte und die blaue Tinte aufgebraucht war.
    Seit er in Laubegast in die

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