Neue Leben: Roman (German Edition)
Rede, meinte er das Gelbe der Lüge auf ihrer Zunge zu sehen. Was sie sprachen, widerte ihn an.‹« Joachim las langsam und deutlich. Dabei drehte er den Oberkörper, um die Zettelvor dem Wind abzuschirmen. »Toll geschrieben, nicht?« Joachim strich sein langes dunkelblondes Haar hinter die Ohren und steckte die Zettel unter der Strickjacke in den Hosenbund.
»Ja«, sagte Titus. »›Das Gelbe der Lüge auf ihrer Zunge‹, wirklich toll.«
So wie jetzt war es immer. Joachim sprach, und Titus hörte zu, weil er das Buch nicht gelesen hatte, weil er den Komponisten nicht kannte oder die Bibelstelle oder weil ihm Namen wie Ghandi, Dubček oder Bahro nichts sagten. Joachim hatte Zeit zum Lesen. Joachim hatte für alles Zeit, was ihn interessierte. Doch selbst wenn Titus die Novelle gelesen hätte, neben Joachims Nacherzählung wäre seine eigene Lektüre verblaßt.
Joachim beschrieb das Gespräch zwischen Ferdinand, dem Maler, und seiner Frau Paula, die ihm ausreden will, nach Deutschland zu fahren, in den Krieg, und wie sie schier an ihrem Mann verzweifelt, obwohl der eigentlich alles durchschaut, aber in seiner Schwäche und – Joachim zögerte – in seiner Lauheit nichts findet, woran er sich klammern kann, und deshalb in einen Strudel gerissen wird. Mit dem ersten Morgenzug fährt er nach Zürich.
»Nach Zürich?« Titus blieb stehen. »Wieso denn nach Zürich?«
»Na, wenn sie doch in der Schweiz sind!« Zigarettenrauch waberte aus Joachims Mund. »In Zürich geht er aufs Konsulat und denkt, daß er die Typen da umstimmen kann, weil er sie kennt – und fällt auf die Nase. Er ist viel zu früh da – vorauseilender Gehorsam.«
Vorauseilender Gehorsam, dachte Titus. Mehr noch hatte ihn »Zürich« getroffen. Wer in Zürich lebte, hatte doch keine Probleme mehr, zumindest keine ernsthaften. In Zürich ließ es sich leicht mutig sein.
»Wir haben die ganze Zeit an dich gedacht«, sagte Joachim.Er schnippte die Kippe weg. Titus errötete. Jetzt war er dran. Jetzt mußte er etwas sagen.
»Nicht nur gedacht«, fügte Joachim hinzu und ließ mit einer kurzen Drehung der Schuhspitze die Kippe im Gully verschwinden. »Nun kennst du den Keller.«
»Über eine Stunde«, sagte Titus.
»Zwischen den Oszillographen?«
»Ja«, sagte Titus. Er wollte genauso überlegt sprechen wie Joachim.
»In seiner Buchte fühlt er sich am wohlsten!« Joachim lachte auf. »Letztlich ist Petersen ein armes Schwein.«
Titus wollte fragen, wieso Petersen ein armes Schwein sei.
»Hast du Geld? Wollen wir ins ›Toscana‹?« fragte Joachim.
»Ja«, sagte Titus, obwohl er verabredet war und sich beeilen mußte.
Titus kannte das Café nur von außen, das letzte Haus links vor der Brücke. Er wußte, daß es Kruzianer gab, die nach Proben während der Unterrichtszeit ins »Toscana« gingen, zum Frühstück, wie sie sagten. Titus konnte sich selbst sehen, wie er neben Joachim auf dem Bordstein stand, gegenüber dem Parkplatz, und sagte: »Ich lad dich ein.«
Sie liefen die Hüblerstraße entlang. Vor der Buchhandlung blieben sie eine Weile stehen. Am Schillerplatz beobachteten sie die Pantomime des Verkehrspolizisten und ließen sich von ihm hinüberwinken. Statt mit den anderen zu warten, bis sie auf der Brückenauffahrt die Seite wechseln konnten, gingen sie auf das »Blaue Wunder« zu.
Der Wind blies ihnen immer stärker entgegen. Seit sich die beiden kannten, versuchte Titus die Welt mit Joachims Augen zu sehen. Bei Joachim war alles einfach und überzeugend, und wenn Joachim über ihn sprach, dann schien sich Titus’ eigenes Leben zu klären, so wie er plötzlich eine Mathematikaufgabeoder eine Grammatikübung verstand, wenn Joachim die Frage formulierte. Zugleich aber schmerzte ihn, daß er selbst Joachim nichts raten, ihm nichts schenken konnte. Joachim brauchte ihn nicht.
Im »Toscana« hängte Titus seine Kutte an die Garderobe. Noch während der runde Fenstertisch nahe der Tür abgeräumt wurde, schob sich Titus auf einen Stuhl. Joachim trat an die Kuchentheke und kehrte mit einem Bon zurück. Titus machte es ihm nach. Er war überrascht, so viele alte Frauen mit Hüten hier zu sehen.
Joachim begrüßte die Kellnerin, deren spitzenbesetztes Dekolleté den Ansatz ihrer Brüste frei ließ. Die Falten am Hals schnitten wie Schnüre in die Haut. Er bestellte zwei Kännchen Kaffee und gab ihr die Kuchenbons.
»In Zürich läßt sich Ferdinand rasieren und die Anziehsachen ausbürsten«, fuhr Joachim einfach fort, als
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