Neue Leben: Roman (German Edition)
sich freiwillig mit Lesebuchautoren abgab. Seine Deutschlehrerin hatte gesagt, Tucholsky hätte ein zweiter Heine werden können, und Gunda Lapin hatte dem zu seinem Befremden zugestimmt.
Jetzt, am Schreibtisch, erschien ihm die Enttäuschung, die er angesichts des Ateliers empfunden hatte, lächerlich, als hätte so ein Haus einen lichtdurchfluteten Saal beherbergen können.
Er hatte einen niedrigen Raum mit verhängten Fenstern betreten und jenen Geruch wahrgenommen, der noch immer an ihm hing. Ein Teppich aus Farbspritzern hatte bis an die Bilder und Rahmen herangereicht, die die linke Hälfte des Raumes gefüllt hatten.
Rechts von der Tür war er auf ein kleines Podest gestiegenund hatte sich auf das dunkelrote, an Rücken- und Seitenlehne abgewetzte Kanapee gesetzt, ein Vorgang, der, so naheliegend und selbstverständlich er gewesen war, ihm gleichermaßen als Auszeichnung und Anmaßung erschienen war. Gunda Lapin hatte ihm ein Laken über die Hose gelegt, eine Schale mit Obst und Schokolade auf einen Hocker neben seine Füße gestellt und im Abstand von drei Metern – weiter entfernt war nicht möglich gewesen – mit ihrer Staffelei Aufstellung genommen.
Soweit war alles klar, bis dahin ließ sich sein Besuch ohne weiteres beschreiben. Garten, Haus, Wohnung, Atelier – alles war ein bißchen seltsam und fremd und verlockend gewesen.
Und dann? Gunda Lapin hatte ihn angeblinzelt, als hätte sie etwas Eigenartiges an ihm entdeckt. Er hatte ihrem Blick standgehalten, jedoch nicht mehr gewagt, nach der Schokolade zu greifen oder am Kaffee zu nippen.
Die Staffelei hatte nahezu flach vor ihr gelegen. Deshalb hatte sie die Pinsel an Stöcken festgebunden, die sie wie Ruten in der Hand gehalten hatte. Anstelle einer Palette hatte sie Näpfe benutzt, in denen sie die Farbe eilig verrührt hatte. Dabei hatte sie den Napf mit ausgestrecktem Arm von sich weghalten müssen, um mit dem verlängerten Pinsel hineinfahren zu können.
Titus sah wieder auf sein Spiegelbild in der Scheibe, das von den roten Lichtern des Wasserturms im Dreieck umgeben wurde. All diese Äußerlichkeiten zu beschreiben hielt nur auf, das war Kulisse und letztlich belanglos. Er wollte sich auf das Wesentliche konzentrieren. Außerdem würde er das Atelier niemals vergessen, es stand ihm in allen Einzelheiten klar vor Augen.
Warum aber schrieb er nicht auf, was passiert war? Je genauer er sich zu erinnern suchte, um so verschwommener und ungreifbarer wurde das Vorgefallene.
»Erzähl mir was«, hatte Gunda Lapin gesagt und dabei dieersten Striche über die weißgraue Leinwand gezogen. Ihre Lippen waren schmal geworden.
»Was soll ich denn erzählen?«
»Was dich beschäftigt, was du liest, was du in den letzten Tagen erlebt hast, welche Begegnungen dir wichtig waren!«
Hätte er von der Schule berichten sollen, von Petersen, Joachim? Warum versetzte ihn alles so schnell in Panik?
Gunda Lapin hatte aufgestöhnt, als hätte sie seine Gedanken lesen können. Ihre scharfen Züge waren ihm wie nachgezeichnet vorgekommen. Mal hatte sie geblinzelt, mal hatten sich ihre Augen geweitet.
»So ist es gut«, hatte sie gerufen, »bleib … bleib so, sehr gut, sehr, wunderbar, ganz wunderbar!«
Er hatte nicht gewußt, was er gut gemacht, wodurch er Gunda Lapin derart in Erregung versetzt hatte. Je hektischer ihre Bewegungen geworden waren, um so sicherer hatte er sich gefühlt.
Und weiter?
Er hatte von Joachim erzählt und dann von Petersen. Natürlich hatte Petersen ihn auf dem Kieker. Gestern hatte Petersen ihn gefragt, was VMI heiße, und er, unfähig, einen Gedanken zu fassen, hatte, der Einflüsterung eines Mitschülers folgend, »Freiwillige Masseninitiative« geantwortet. Und Petersen hatte gesagt, daß er sich nun nicht mehr wundere, wieso Titus eine Fünf im Diktat bekommen habe, was ihm zunächst unglaublich erschienen war, so eine dicke Fünf, was er aber nach dieser Antwort verstehe und was ihn in Hinblick auf die Eignung von Titus Holm für die Abiturstufe höchst bedenklich stimme, gerade weil er doch den Berufswunsch Deutschlehrer habe. Aber er freue sich natürlich, daß Titus die Freiwilligkeit der Volksmasseninitiative betone und sie alle jetzt wohl davon ausgehen dürften, daß der erste Freiwillige gefunden sei.
Er hatte Gunda Lapin erklären müssen, was daran so schlimmgewesen war: weniger die Androhung, ihn nach der Zehnten von der Schule zu schmeißen, als die Bloßstellung, die damit verbunden gewesen war. Natürlich sei
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