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Neue Leben: Roman (German Edition)

Neue Leben: Roman (German Edition)

Titel: Neue Leben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingo Schulze
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Gemeinschaft leisten.
    »Was denn?« hatte Titus gefragt. »Ich denk, du willst Arzt werden?«
    »Natürlich will ich Arzt werden, aber dort, wo man mich braucht.« Dabei hatte Mario seine Sportsachen in die Schultasche gestopft, das rechte Hosenbein aufgekrempelt, seine Turnschuhe an den Schnürsenkeln zusammengeknotet und sie sich um den Hals gehängt. »Du kannst doch nicht …«, hatte Titus gesagt, dann aber den weißen Kittel vor der offenen Tür bemerkt. Petersen, der Klassenlehrer, hatte Titus die Hand geschüttelt, als überreichte er ihm eine Auszeichnung. Und Mario hatte er zugerufen: »Denken Sie in dieser Richtung weiter!« und bereits zur Treppe gezeigt: »Bitte, Titus!«
    Im Physikkeller hatte sich Petersen an ihm vorbeigezwängt und die Tür zu einer Kammer geöffnet, in der zwischen zwei Tischen mit Oszillographen nur ein schmaler Gang blieb, kaum breiter als der alte Drehstuhl unter dem Kellerfenster, auf den sich Petersen gesetzt hatte. Der Hocker vor der Tür war für Titus bestimmt. »Wir haben Zeit«, hatte Petersen gesagt und seine Armbanduhr sorgfältig abgelegt.
    Später, als das Gespräch vorüber gewesen und Titus schon aufgestanden war, hatte Petersen plötzlich dieses Buch in der Hand gehalten. Titus war das wie ein böser Zaubertrick erschienen.
    Mit dem Buch in der Hand war Titus Stufe um Stufe nach oben gestiegen, unschlüssig, ob er weitergehen oder auf Petersen warten sollte, weil auch sein zweites »Auf Wiedersehen« nicht erwidert worden war. Vor der Tür des Physikzimmers hatte Titus Schultasche und Turnbeutel zwischen den Füßen abgestellt, als könnte er anders nicht die Klinke drücken. Schlüsselklirrend war Petersen heranmarschiert und dann, nachdem er auch das dritte »Auf Wiedersehen« überhört hatte, im Vorbereitungsraum verschwunden.
    Die verbrauchte Luft des Physikzimmers, das stumpfe, vom Bohnern schwarz gewordene Parkett, der Apfelgriebs unter seiner Bank und die immer etwas schief hängende Wandzeitung hatten ihn plötzlich heimatlich vertraut angemutet …
    Vor dem Internat rief Titus nach Joachim. Er rief gerade so laut, daß er ihn hören mußte. Statt einer Antwort wurde im Erdgeschoß ein Fenster geöffnet. Titus wiederholte seinen Ruf in kurzen Abständen. So froh er war, dem Freund nun guten Gewissens aus dem Weg gehen zu können, so sehr kränkte es ihn, daß er nicht auf ihn wartete.
    Im nächsten Moment erschrak Titus, als er in einem der beiden Jungen, die vom Volkspark her über die Straße kamen, Joachim erkannte. Er lief ihnen entgegen, sie aber blieben stehen. Titus setzte die Schultasche ab, kramte darin herum, als suche er etwas, und hielt plötzlich Petersens gelbes Buch in der Hand. Die Rückseite des Umschlags war gewellt, eine Hügellandschaft, wie sie durch feuchte Fingerkuppen entsteht. Als Titus wieder hinübersah, kam Joachim schon auf ihn zu, der andere lief, ein Buch unter den Arm geklemmt, zum Internat. Titus stopftePetersens Buch hinter den Atlas, damit es nicht mit den Heftern und Schulbüchern in Berührung kam.
    »Da bist du ja schon«, sagte Joachim, fingerte eine Zigarette hervor und neigte sich mit einer abrupten Wendung nach rechts über das Streichholz. Seine enge überlange Strickjacke machte ihn noch magerer. Er blies den Rauch aus einem Mundwinkel.
    »Wir haben die erste Novelle gelesen«, sagte Joachim, »gehen wir ein Stück?« Titus nickte.
    »Daß die das drucken! Das muß denen durchgerutscht sein!« Joachim zog ein paar zusammengefaltete Zettel unter der Strickjacke hervor, karierte A4-Blätter, beidseitig beschrieben. Titus erkannte die Handschrift, diese eng aufeinanderfolgenden und in den Kästchen hüpfenden Druckbuchstaben, dazu noch Pfeile, Anstriche und dicke Punkte.
    »›Warum haben sie die Macht?‹« Joachims Zeigefinger fuhr die Zeile nach. »›Weil ihr sie ihnen gebt. Und nur solange ihr feig seid, haben sie die Macht.‹ Wie findest du das?«
    »Wer sagt das?« Titus blickte auf Joachims abgewetzte Schuhspitzen.
    »Ferdinand, ein Maler, bekommt einen Brief, braun und amtlich, daß er nach Deutschland zurücksoll, zur Musterung, Erster Weltkrieg. Er will nicht, seine Frau will nicht. Aber er spürt einen Zwang …«
    »Einen Zwang?« fragte Titus.
    »Sie sind geflüchtet, nicht offiziell. Hör mal«, sagte Joachim: »›Zwei Monate lang ertrug er es noch, in dieser Stickluft der patriotischen Phrase zu leben, aber allmählich ward ihm der Atem zu eng, und wenn die Menschen um ihn die Lippen auftaten zur

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