Neue Leben: Roman (German Edition)
hätte er seine Erzählung nie unterbrochen. »Ferdinand kauft graue Handschuhe und einen Spazierstock, er will beeindrucken. Er ist bis aufs I-Tüpfelchen vorbereitet. Dann aber kommt alles ganz anders.«
Joachim sprach weiter und klopfte dabei mit seiner Zigarette auf die Tischplatte, als folgte er einem geheimen Rhythmus. Titus war gekränkt, weil Joachim ihn nicht weiter nach dem Keller und Petersen fragte. Oder wollte er ihn schonen? Und was war an diesem »Toscana«, dieser Ansammlung vogelgesichtiger Frauen denn Besonderes? Wieso hatte er eingewilligt, hierherzugehen? Besaß er keinen eigenen Willen?
Joachim sprach weiter, zurückgelehnt, die Beine übereinandergeschlagen, in der Rechten die Zigarette, die Linke auf dem Tisch, als sollte Titus die großen Halbmonde der Fingernägel sehen oder die Adern, die wie auf Männerhänden hervortraten, Regenwürmer auf ihrem Weg zum Handgelenk.
Joachim hatte nur die oberen Knöpfe seiner Strickjacke geöffnet. Er inhalierte den Rauch, sein Brustkorb hob und senkte sich. Titus starrte ihn an und empfand plötzlich einen unerklärlichen Widerwillen gegen dieses Atmen, als sei es etwas Ungehöriges. Noch nie hatte er Joachim nackt gesehen, nicht mal mit freiem Oberkörper. In den Sportstunden behielt er sein Unterhemd unter dem blauen Sportdreß an. Nur an seine mit Leberflecken gesprenkelten Arme konnte er sich erinnern.
[Brief vom 5. 5. 90]
Titus beugte sich vor, aber Joachim sprach deshalb nicht leiser. Oder las er gar nicht mehr vor? »›Wenn man noch Willen hätte‹«, deklamierte Joachim, »›aber man gehorcht. Man ist der Schulknabe: Der Lehrer ruft, man steht auf und zittert.‹« Er hielt das Blatt nicht zwischen den Fingern, sondern in der ganzen Hand, er zerknitterte das Papier am Rand. Am liebsten wäre Titus ihm ins Wort gefallen: Das ist mein Buch! Ich bin in der Pause hinübergerannt und habe es gekauft. Du hast es von mir geborgt! Ich erlaube dir nicht, darüber zu reden! Ich erlaube nicht, daß du daraus abschreibst, und vor allem verbiete ich dir, es jemandem zu geben, mit dem du dich im Park triffst und den ich nicht kenne!
Titus spürte, daß sich zwischen Joachim und ihm etwas zuspitzte. Aber er wußte nicht, wie sich das nannte. Er war machtlos dagegen. Er schluckte, und seine Kehle schmerzte von den haltlosen Anschuldigungen. Zugleich versetzte ihn eine Art Scham in Unruhe, als hätten sie sich tatsächlich gestritten. Titus merkte kaum, wie Kuchen und Kaffee auf den Tisch gestellt wurden.
Er wollte Petersens Buch aus der Tasche ziehen, es Joachim unter die Nase halten, es ihm auf den Teller knallen, von dem der so gierig Käsetorte aß. Diese Vorstellung riß ihn mit sich.
»Das hat er mir aufgebrummt!« hörte er sich ausrufen. Titus blickte herab auf das Buch in seinen Händen, »Aggressor Bundeswehr«, die rotflammende Schrift auf gelbem Grund. Und als Joachim nur die Mundwinkel verzog, warf er ihm das Buch gegen die Brust. »Das hat er mir aufgebrummt«, schrie er. »Ein Kurzvortrag über den Aggressor Bundeswehr, mit Schlußfolgerungen, verstehst du? Mit Schlußfolgerungen!«
Joachim, der gerade schilderte, wie sich Paula ihrem Ferdinand in den Weg stellt, sollte endlich schweigen. Titus sah sich im Café um, hilfesuchend, zornig und erschrocken. Raus! dachte er. Er durfte hier nicht länger seine Zeit vertrödeln. Er war verabredet. Er wollte erwachen, diesen sonderbaren Zustand abschütteln. Er beobachtete eine rothaarige Frau am Nachbartisch, die, wenn sie lachte, sich sogleich mäßigend auf die Unterlippe biß. Ihre Knie schimmerten hell durch die schwarzen Strümpfe. An ihren Schuhen waren die Schnürsenkel zu großen Schleifen gebunden.
Titus sah, wie sie morgens in die Schuhe fuhr und diese großen Schleifen band. Ob auch sie sich manchmal fragte, was bis zum Abend, wenn sie die Schuhe wieder auszog, alles geschehen würde? Jeden Morgen, wenn er sich über der Badewanne Nacken und Achselhöhlen wusch, prüfte sich Titus, ob er an diesem Tag den Mut haben würde, so wie Joachim zu bekennen: Ich gehe nicht zur Armee!
Titus wußte, wie sich Petersens Worte in ihm ausbreiten würden, sobald er allein wäre. So wie eine Verletzung erst in der Nacht richtig zu schmerzen beginnt, so wie das Fieber ein paar Stunden braucht, bis es ausbricht, so würden sich bald die Kapseln der Erinnerung in ihm öffnen und Petersens Worte freigeben, damit sie ihn wie Gift durchströmten und lähmten. Starr und steif vor lauter Erinnerung und
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