Neue Leben: Roman (German Edition)
rotgefärbten Filter zu halten. In diesem Moment kam Bernadettes Tante herein. »Störe ich?« fragte sie und ging mit ausgestreckter Hand auf Titus zu. Und so betrat einer nach dem anderen den Raum und begrüßte ihn. Selbst die Kinder erschienen, um ihm guten Tag zu sagen. Martin und Marcus, Bernadettes Brüder, hielten sich abseits, während die Erwachsenen ihn umringten.
»Bernadette ist Ihretwegen beim Friseur gewesen«, flüsterte ihm die Mutter zu. »Lassen Sie sich bitte nichts anmerken. Wir haben gerettet, was zu retten war.« Und laut hatte sie gerufen, daß jetzt wohl die Zeit für ein paar Petits fours sei. Auf einer flachen Porzellanschale erhoben sich blaßrosa, marzipanweiße und gelbe Türmchen, die man sich samt dem Papieruntersatz auf den Teller nahm und dann mit der Gabel von oben her senkrecht zerteilte. Selbst die Kinder beherrschten diese Technik. IhreMutter schenkte Tee aus. Man konnte wählen zwischen hauchdünnen rotweißen Porzellantassen und großen Schalen, die mit spitzbrüstigen und kahlgeschorenen Figuren bemalt waren.
Bernadette sah mit ihrem dauergewellten Haar aus, als trüge sie ein Nest auf dem Kopf. Nur ihre Mutter redete weiter. Die Kinder kicherten. Er trat Bernadette ohne zu erröten entgegen. Sie gaben sich die Hand, und das erste, was Bernadette mit einer leichten Drehung zur Seite sagte, war »Mein Vater«. Der kam mit kleinen schnellen Schritten heran.
Titus erkannte ihn nicht. Er sah zunächst nichts weiter in ihm als Bernadettes Vater und begriff erst in dem Moment, als der große Böhme einfach nur »Böhme« sagte, wen er da vor sich hatte – Titus war ein »Ach« herausgerutscht, »Ach«, und das hatten sie alle verstanden. Fast hätte er noch mehr gesagt, daß er sich so etwas bei dieser Adresse hätte denken können oder so ähnlich. Aber er hielt den Mund, weil sein »Ach« in der Wirkung nicht zu übertreffen war.
»Was hat er gesagt?« fragte Rudolf Böhme, und nun wiederholten gleich zwei der Frauen sein »Ach«, ohne gleich den richtigen Ton zu treffen, weshalb sie einander rügten und korrigierten, in Lachen ausbrachen und Titus auf eine Weise mit Blicken maßen, die er nicht zu deuten wußte. Er versuchte alldem standzuhalten, und da Bernadette ihren Arm unter seinen schob, als wollte sie Anspruch auf ihn erheben, ließ er sein halbes Petit four und die Teeschale stehen und vertraute darauf, daß ihn die Wellen des Lebens einfach weitertragen würden.
Als letzte erschienen sie zum Ball im »Elbehotel«, was ihnen niemand zum Vorwurf machte, im Gegenteil. Bernadettes Freundinnen hatten zwei Stühle in der Mitte freigehalten, so daß sie wie ein Hochzeitspaar Platz nehmen konnten. Sie tanzten miteinander, einer von ihnen wußte immer die Schrittfolge.
Später ging er mit Bernadette herum und stellte sie seinerMutter und dem Großvater vor. Und sie alle begriffen, wer sie war, als er Bernadette Böhme sagte. Und schließlich forderte er, wie es die Ballkarte vorschrieb, Bernadettes Mutter zum Cha-Cha-Cha auf und versuchte vergeblich, ihre Armhaltung zu korrigieren.
Im Wettbewerb wurden Bernadette und er Dritte – die besten unter den Anfängern. Aber was besagte das schon. Von ihnen war etwas »Magnetisches« ausgegangen. Er meinte das wortwörtlich. Sie waren es, nach denen man sich ausrichtete. Kein Wort, keine Geste, kein Blick, der nicht auf irgendeine Weise von anderen beantwortet worden wäre. Selbst Martin, ihr Bruder, kam zu ihm. An der Bewegung, mit der er den Sitz seiner Krawatte korrigierte, begriff er, daß Martin nicht jünger, sondern womöglich älter war als er. »Du gehst ab September auf die Kreuzschule?« fragte Martin. »Also auf unsere Schule?« Zu dritt stießen sie an.
*
Titus dachte an seinem Schreibtisch, wie unangenehm es ihm gewesen war, daß Gunda Lapin ihn gedrängt hatte weiterzuerzählen. Er hatte nur noch gesagt, daß Martin Kruzianer sei und in seine Parallelklasse gehe und sie gemeinsam Sport hätten.
»Und Bernadette?«
Titus hatte Gunda Lapin angesehen, als sei er überrascht, diesen Namen aus ihrem Mund zu hören.
»Bernadette geht in die zehnte Klasse.«
»Trefft ihr euch oft?«
»Nein.«
»Und morgen?«
Hatte er die Einladung erwähnt? Doch woher sonst sollte Gunda Lapin davon gewußt haben?
*
Nach dem Ball verabschiedeten sich Bernadette und er voneinander, ohne ein Treffen zu vereinbaren, weil sowieso klar war, daß sie sich in den nächsten Tagen wiedersehen würden. Die Böhmes und ihre Verwandten
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