Neue Leben: Roman (German Edition)
fuhren mit den Autos hinauf zum Weißen Hirsch, während er mit seiner Mutter und dem Großvater auf die Straßenbahn wartete. An diesem Wochenende begannen die Sommerferien.
Weil er keinen Rudolf Böhme aus der Schröderstraße 15 im Telephonbuch fand, fuhr er drei Tage später zu ihnen. Verwaist wie ein Theater während der Sommerpause war das Anwesen. Einmal, zweimal pro Woche nahm er die Elf hinauf zum Weißen Hirsch. Täglich stürmte er zum Briefkasten, aber nicht einmal die Photos vom Abschlußball kamen.
Anfang August sprang endlich das Tor auf, und er konnte wieder den Geruch des Hauses einsaugen. Martin schien erfreut, ihn zu sehen. Titus glaubte, Martin führe ihn zu Bernadette, und selbst als er allein blieb, erwartete er, daß Martin an Bernadettes Tür klopfen würde. Doch Martin kehrte nur mit einer Kanne kaltem Kaffee zurück. Und so wurde Titus Martins Gast.
Bernadette war in Ungarn, bei oder mit Freunden, das verstand er nicht richtig. Er hätte gern das Wohnzimmer gesehen und ihre Eltern. Titus trank zuviel Kaffee. Er leerte Tasse um Tasse, wie Martin, ohne nach Milch und Zucker zu fragen, ohne etwas zu schmecken.
Nachts konnte er nicht schlafen und bekam Fieber. Vielleicht war ein Brief Bernadettes verlorengegangen. Besaß sie überhaupt seine Adresse?
Ein paar Tage vor Schulbeginn wurde er von ihrer Mutter empfangen.
[Brief vom 19. 5. 90]
»Welche Freude, Sie zu sehen, Titus«, rief sie und führte ihn ins Haus, wo er sich von ihr anschauen lassen mußte. Ob seine Zeit ihm erlaube, bei ihnen einen
tea
zu nehmen? Sie schickte ihn auf die Veranda und kam mit einem Gedeck nach. »Das wird Bernadette aber leid tun! Die Mädchen sind nach Potsdam gefahren. Hat sie Ihnen nicht geschrieben?«
Ein Nein wäre unhöflich, ja ein Verrat an Bernadette gewesen. Zudem beruhigte es ihn, daß sie von »Mädchen« gesprochen hatte.
»Was für eine aparte Frau, Ihre Mutter!« sagte Frau Böhme. Titus hätte beinah gesagt, daß seine Mutter ja fast vierzig sei, aber Frau Böhme war vielleicht noch älter und mit Sicherheit das, was sie
apart
nannte.
»Spätestens mit dreizehn, vierzehn sind die Kinder fertig, da ist Schluß mit dem Einfluß der Eltern, im Gegenteil, je mehr man predigt, desto schneller verliert man sie.« Frau Böhme rückte ihren Korbstuhl näher an seinen und schenkte ihm Tee nach. Auch auf dieser Seite des Hauses gab es diese runden Beete mit den roten Blumen.
»Freunde sind das Wichtigste, und wissen Sie, Titus, deshalb wollte ich Sie bitten, Ihren Einfluß auf Bernadette geltend zu machen. Denn sie hat es gerade nicht leicht mit sich. Aber vor meinem Mann kein Wort davon, wenn ich Sie bitten darf, Rudolf ist ein Problem für sich.«
Titus war wie benommen. Weihte sie ihn nicht gerade in etwas ein, wovon nicht mal Rudolf Böhme etwas wissen durfte?
Noch bevor Rudolf Böhme die Terrasse betrat, stand Titus auf und ging ihm entgegen, ergriff die schlenkernde, wie ein Fähnchen herabhängende Hand und sah die vor lauter Konzentration geschlossenen Augen.
Titus folgte dem Beispiel der beiden Böhmes und kratzteButter über den Toast und verteilte darauf
jam
aus Gläsern ohne Etiketten. Er probierte alle Sorten, ohne Rudolf Böhme aus den Augen zu lassen, der ihn, wie ihm schien, noch kein einziges Mal richtig angesehen hatte, obwohl er die ganze Zeit mit seinen wulstigen Lippen zu ihm sprach.
Titus mobilisierte seine gesamte Aufmerksamkeit, alles, was er in sich fand, um es den Worten Rudolf Böhmes entgegenzuwerfen, und marschierte tapfer voran, wie ein Soldat in den Befreiungskriegen, der unbeirrt blieb von den Einschlägen rings um ihn herum. Zugleich aber war Titus vollkommen abwesend. Er trank eine Tasse
tea with milk
nach der anderen und lobte jedesmal den
jam
, obwohl er bitter und überhaupt nicht süß schmeckte. Und wieder staunte er, wie wenig Wille und Verstand bewirkten, während ihm der Zufall, oder wie immer er jenes Geschick nennen sollte, wie im Märchen die Türen öffnete.
Rudolf Böhme führte ihn anschließend durchs Haus und zeigte ihm die Bilder seiner Sammlung. Und Titus sagte, daß hier die eigentliche Sammlung »Neuer Meister« sei, hier und nicht im Albertinum, ein Satz, den Rudolf Böhme seiner Frau zitierte, als sie zu dritt in der Küche saßen und Hawai-Toast aßen. Titus blieb bis zehn und fuhr schließlich mit drei von Rudolf Böhme geliehenen Büchern nach Hause. Nachts erbrach er sich. Die Magenschleimhaut, sagte seine Mutter. Er könne wohl
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