Neue Leben: Roman (German Edition)
nicht zu Böhmes gehen, ohne krank zu werden.
Bernadette sah er erst in der Schule wieder. Solange es ging, wich er ihr aus, weil er sich ihr gegenüber wie ein Erstkläßler vorkam. Schon von weitem erkannte er sie an der Art, wie sie ihren Kopf hin und her warf. In der Schlange vor der Essensausgabe begrüßte sie ihn dann, stellte ihn einer Freundin als ihren Partner vom Abschlußball vor und bat darum, sie beide vor sich in die Reihe zu lassen.
Sooft sie einander in der Schule über den Weg liefen – jedesmalschien Bernadette von neuem überrascht zu sein, ihm zu begegnen.
Ihm kam es so vor, als habe sich seit dem Abschlußball die Zeit umgekehrt, als sei er jünger statt reifer geworden. Und das, wovon er immer geträumt hatte, lag plötzlich hinter ihm in märchenhafter Vergangenheit.
Davon hatte er Gunda Lapin erzählt. Er hatte unaufhörlich gesprochen. Woher aber war plötzlich seine Gewißheit gekommen, daß nun alles anders werden würde? Wie war jene Veränderung geschehen, über die er schreiben wollte?
»Du bist aber durstig«, hatte Gunda Lapin gesagt. Er hatte sein Glas, kaum war es gefüllt gewesen, wieder geleert. Aber diesmal war es nur Wasser gewesen.
Titus starrte auf die aufgeschlagene Seite seines Tagebuchs. Er las Tag, Datum und Uhrzeit und den Namen Gunda Lapin. Er vollendete den begonnenen Satz mit den Worten »trug keinen BH «. Er vervollständigte auch die Angabe in der Kopfzeile: 1.16 Uhr. Danach schlug Titus sein Tagebuch zu.
3
Titus hatte sich um eine halbe bis dreiviertel Stunde verspäten wollen, damit man an Martins Geburtstagstafel nach ihm frage und jemand einen Platz für ihn freihielte. Er wußte selbst nicht, wie anderthalb Stunden daraus geworden waren. Es tat ihm leid, so viel von der kostbaren Zeit, die er in Böhmes Villa sein durfte, vergeudet zu haben. Und statt sich in der Rolle des geheimnisvollen späten Gastes einzurichten, machte er sich Vorwürfe.
Er hatte noch den Weg über die gelben zerbrochenen Fliesen vor sich, als Bernadette die Haustür öffnete und ihm entgegenkam.Sie trug eine ärmellose Bluse und verschränkte die Arme vor der Brust. Wortlos gaben sie einander die Hand. Die Gänsehaut ging ihr bis zur Schulter.
Titus genoß den Geruch des Hauses. Versuchte er ihn zu beschreiben – Nüsse, frische Wäsche, Möbelpolitur, Zigaretten, Parfüm, Überbackenes, Ananas –, war bereits zuviel Überlegung im Spiel.
»Man drängelt sich in der Küche«, sagte Bernadette und reichte ihm einen Kleiderbügel. Mit einem Teller Kuchen stieg sie die Treppe hinauf.
»Macht doch nichts«, sagte Martin und legte das Geschenk aufs Fensterbrett. »Macht überhaupt nichts.« Sie hatten sich gerade erst an den Tisch gesetzt. Bernadettes Mutter schüttelte ihm lange die Hand. Außer Joachim war noch jener Kruzianer da, der gestern mit Joachim aus dem Park gekommen war. Die drei Mädchen kannte er nicht. Es gab Kaffee und
tea with milk
, Petits fours und einen selbstgemachten Pflaumenkuchen mit Schlagsahne. Joachims Anwesenheit bedrückte Titus, als hindere sein Freund ihn daran, der zu sein, der er hier einmal gewesen war.
Bernadettes Mutter setzte sich bald zu Titus und erkundigte sich nach seiner Mutter und dem Großvater und danach, ob er die ersten Wochen in der neuen Schule gut überstanden habe. Am liebsten wäre er bei ihr in der Küche geblieben.
In Martins Zimmer sprach man über einen Lehrer, den Titus nicht kannte, und Joachim dozierte dann über das Sentimentale in der Musik von Schütz.
Die Sonne stand so tief, daß sie die Wolken von der Seite und von unten beleuchtete und scharf und dunkel umrandete. Als er endlich die beiden Gestalten auf der Wiese bemerkte, waren sie schon zu weit weg.
Nur an einer Bewegung des Kopfes war Bernadette zu erkennen. Sie hielten sich an der Hand. Beinah hätte er aufgestöhnt,solch einen Stich versetzte ihm dieser Anblick. Sie waren quer über die Wiese gegangen und hatten schon fast die Sträucher erreicht, die das Grundstück nach links begrenzten. Titus drückte seine Stirn an die Scheibe, aber da waren sie verschwunden.
Er hörte seinen Namen. »Wie ausgelaufener Sirup«, sagte er ruhig. Das Licht im Zimmer erlosch, die anderen kamen ans Fenster. Titus drehte sich nicht um, er machte auch nicht Platz. Nach Süden hin war der Himmel grün, aber dort, wo das Lila ins Hell- und dann ins Dunkelblau lief, verschwamm die Grenze.
»Mir schwanden die Sinne«, sang Martin, »mir wurde schwarz vor den Augen, mir
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