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Neue Leben: Roman (German Edition)

Neue Leben: Roman (German Edition)

Titel: Neue Leben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingo Schulze
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die gleiche Perücke. Bernadette hatte im selben Moment aufgeblickt, da ihr Vater Titus mit Namen nannte.
    Gelächter beendete die Rede, weil die Gläser, nach denen zu greifen sie Rudolf Böhme aufforderte, noch nicht gefüllt waren,und Rudolf Böhme, sich selbst unterbrechend, rief, er habe doch gewußt, daß da etwas fehle.
    Kaum hatten sie angefangen zu essen, war auch schon die Ketchupflasche leer gewesen. Trotzdem wurde die Flasche weiter herumgereicht, eine schier unerschöpfliche Albernheit, die ihren Höhepunkt erreichte, als Rudolf Böhme arglos mit erhobenem Haupt um den Ketchup bat und nach einigen erfolglosen Versuchen bemerkte, ihnen sei wohl der Ketchup ausgegangen.
    Bernadette saß zurückgelehnt da und starrte auf die Reste ihres Toastes. An dem Ketchupwitz hatte sie sich nicht beteiligt, weshalb auch Titus bemüht gewesen war, möglichst wenig zu lachen.
    Martin und Joachim blödelten weiter herum und beschworen gerade dadurch das Schweigen am Tisch herauf. Titus suchte bereits nach einer Frage, die er Rudolf Böhme stellen konnte, und gab sich Mühe, Messer und Gabel möglichst lautlos abzulegen. Er beobachtete, wie tief sich Rudolf Böhme jedesmal über den Teller beugte, um die Bissen von der Gabel zu ziehen. Die Bewegungen seiner Lippen und der Zunge wie auch das gründliche, lang anhaltende Kauen erschienen Titus wie ein umgekehrtes Sprechen, als wollte sich Rudolf Böhme die Worte, Sätze und Gedanken jetzt einverleiben, die er irgendwann schreiben oder aussprechen würde.
    »Woran arbeiten Sie denn gerade, wenn man das wissen darf?« fragte Joachim.
    »Papa, du bist gemeint«, rief Bernadette.
    »Oder wollen Sie lieber nicht darüber sprechen?«
    Titus nutzte die Gelegenheit, um tief ein- und auszuatmen.
    »Ich übersetze«, sagte Rudolf Böhme weiterkauend. »Ich tue so, als könnte ich das. Übrigens zusammen mit eurem Brockmann, Boris Brockmann. Der ist großartig, wirklich großartig, der übersetzt tatsächlich, ich dichte da nur so hinterher.«
    Mit einem Rest des geschmolzenen Käses tupfte Rudolf Böhme die Toastkrümel auf.
    Boris Brockmann, der Latein- und Griechischlehrer, der sie ab der Zehnten unterrichten würde, sah aus wie Bertolt Brecht und kleidete sich auch so. Titus begegnete ihm nur, wenn er den Weg über das oberste Stockwerk des Hauptgebäudes nahm. Halb ans Fensterbrett gelehnt, halb auf der Heizung sitzend, schien Brockmann nur darauf zu warten, gegrüßt zu werden, um sein eigenes »Guten Tag« so ernst und wohlartikuliert auszusprechen, daß Titus jedesmal den ursprünglichen Wunsch in der Grußformel hörte.
    »Man müßte mal ein ganzes Buch über das Übersetzen schreiben«, sagte Rudolf Böhme, »von Humboldt bis heute. Wer richtig hinschaut, merkt schnell, daß ein Übersetzen im Grunde gar nicht existiert. Und wie schnell sitzt man in der Falle!« Er wischte sich gründlich den Mund ab.
    »Worüber man sich immer lustig macht, und völlig zu Recht lustig macht, dieses ›Was will uns der Dichter sagen?‹« – Rudolf Böhme lachte vor sich hin, seine Zunge fuhr über die Schneidezähne. »Da hast du das Original, nun mache die Übersetzung, und jeder findet das in Ordnung. Wo ist das Problem, wenn man doch beides so schön ins Regal stellen kann? Was aber soll denn das Original sein, das Original gibt es ja nur, weil sich da einer drüberbeugt, sonst gäbe es das Original gar nicht.«
    Subjektiver Idealismus, dachte Titus.
    »Aber wenn das Original nicht das Original ist«, sagte Martin, »was ist es denn dann?«
    »Das Original im Regal ist weiter nichts als bedrucktes Papier«, sagte Rudolf Böhme. »Sobald du es aber aufschlägst und liest, wird die Sache kompliziert.«
    »Vielleicht verrätst du ihnen auch, was du übersetzt«, sagte Bernadettes Mutter, die schon wieder rauchte.
    »Da geht es ja bereits los!« rief Rudolf Böhme. »Die ›Bakchai‹ des Euripides, die ›Bacchantinnen‹, die ›Besessenen‹ oder die ›Rasenden‹, oder wie soll ich sie nennen? Versteht ihr?«
    »Nein!« sagte Martin.
    »Sage ich ›Bacchantinnen‹, sehe ich Jordaens vor mir, und bei ›Bacchus‹, Caravaggio, der kranke Bacchus, was hat das mit Dionysos zu tun?«
    »Dann nimm ein anderes Wort«, sagte Martin.
    »Und welches?«
    »Was im Wörterbuch steht.«
    »Was im Wörterbuch steht?« fragte Rudolf Böhme und schloß die Augen. »Im Wörterbuch steht: ›bacchisch Begeisterte, Verzückte, Wütende, Rasende‹, so was in der Art.«
    »Und was paßt?«
    »Ja, welches

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