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Neue Leben: Roman (German Edition)

Neue Leben: Roman (German Edition)

Titel: Neue Leben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingo Schulze
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Unterscheidung, die Teiresias zwischen
kratos
, der Macht als etwas Äußerlichem, und
dynamis
, der Kraft und Stärke als Eigenschaft, trifft.
    Rudolf Böhme sah beim Sprechen vor sich auf den Tisch. Hob er einmal den Kopf, schloß er die Augen. Erst aus dieser Nähe gewahrte man die vielen Fältchen, die sich wie ein feinmaschiges Netz von den Augenwinkeln her über die Wangen ausbreiteten.
    Wie früher, wenn seine Mutter ihm Geschichten erzählt hatte, so sah Titus auch jetzt alles vor sich. Das Schloß des Pentheus glich der Kreuzschule, Pentheus war eine Art Direktor oder Lehrer und Dionysos, das hatte Rudolf Böhme behauptet, ein Hippie, ein Frauenheld, ein Künstler.
    »Der Dionysos-Kult«, sagte Rudolf Böhme, »ist keine Sache, die sich einfach mitteilen ließe, man muß den Kult vollziehen, man muß mitmachen und sich an die Regeln halten, wie bei jedem Glauben.«
    Titus sah, wie Dionysos in den Kohlenkeller gesperrt wird – da erbebt die Erde, das Schulgebäude stürzt ein, Dionysos aber tritt unversehrt hinaus auf den Schulhof und prahlt damit, Pentheus mit Wahnsinn geschlagen zu haben. In diesem Moment kommt schon Pentheus angerannt – war es Petersen? War es der Direktor? Alles ist so eingetroffen, wie es Dionysos vorausgesagt hat. Doch solches Gerede will Petersen nicht hören. Er läßt das Schultor schließen, als hätte er nicht gerade selbst erlebt, wie nutzlos derartige Befehle sind. Joachim weist ihn darauf hin, aber Petersen hat genug von diesem Schüler, der immer das letzte Wort haben will. »Sofos, sofos sy!« schreit er. »Klug, klug bist du, nur dort nicht, wo du klug sein solltest!«
    »Er ist harthörig, wie das mein Opa ausdrücken würde«, sagte Joachim.
    »Man versteht Pentheus und versteht ihn auch nicht«, fuhr Rudolf Böhme fort. »Alles, was er bisher gelernt hat, alle seine bisherigen Erfahrungen widersprechen dem, was er da erlebt. Wir können nicht erwarten, daß er so mir nichts, dir nichts dieBrille abnimmt, durch die er seit Jahr und Tag die Welt betrachtet. Andererseits ist es erstaunlich, wie blind er für die veränderte Situation ist.«
    In dem Moment schlug wieder der Lichtkeil gegen den Tisch. Bernadette kam mit zwei Kompottschälchen herein. Titus erhob sich und ging in die Küche, dem Apfel- und Vanilleduft entgegen, nahm ebenfalls zwei Schälchen und trug sie auf. Bernadette lächelte, ihr Mund bewegte sich, als wollte sie etwas sagen. Noch zweimal liefen sie dicht aneinander vorbei. Als sie wieder am Tisch saßen, sah Bernadette ihn an. Uns reichen Blicke, um die Gedanken des anderen zu kennen, dachte Titus und wartete, bis Bernadette zum Löffel griff und zu essen begann, überbackene Apfelstücke mit Vanillesauce.
    »Das schmeckt vorzüglich«, sagte Rudolf Böhme, spitzte die Lippen und schlug mit dem Löffel in die Luft, als klopfte er ein Ei auf. Titus stimmte nicht in das Lob ein, das erschien ihm zu läppisch. Auch Bernadette schwieg. Aber es war eine fröhliche Stille, die sogar die Tragödie in ein helles Licht rückte.
    »Wo ist eigentlich Stefan?« fragte Rudolf Böhme, der bereits sein Schälchen auskratzte. Martin schien die Frage nicht gehört zu haben, Titus sah, wie sehr er mit dem Nachtisch beschäftigt war, er mußte lächeln, und dieses Lächeln wollte er Bernadette zeigen, die aber im selben Moment sagte: »Ich geh dann rüber«, und dabei sah sie Titus an, der nun nicht mehr wußte, wohin mit seinem Lächeln. Er schaufelte es zu, er schaufelte die Apfelstückchen in sich hinein wie Erde in ein Grab und sah auch nicht auf, als Bernadette hinausging.
    »Ihr Freund wird übermorgen eingezogen«, flüsterte Rudolf Böhme. »Für die beiden ist das ein bißchen wie Weltuntergang.«
    Als Titus die Hand von Bernadettes Mutter auf seiner Schulter spürte, hätte er beinah losgeschluchzt. Ohne den Kopf zuwenden, reichte er ihr sein leeres Schälchen, selbst für ein einfaches »Danke« fehlte ihm die Stimme.
    Ob sie nicht Lust hätten, jetzt einen
tea
zu trinken, fragte Bernadettes Mutter und stellte die Metalldose mit Kandiszucker direkt vor Titus hin.
    »Ich will es noch schnell zu Ende bringen«, rief Rudolf Böhme, »oder gibt’s Nachschlag?«
    Er erzählte von einem Hirten, der die Frauen im Gebirge beobachtet hat. Doch was er berichtet – Szenen voller Harmonie zwischen Mensch und Natur –, ist nicht nach dem Geschmack des Pentheus …
    Titus sah diesen Stefan vor sich, kurzgeschoren und mit einem Stahlhelm auf dem Kopf. Titus versuchte sich

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