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Neue Leben: Roman (German Edition)

Neue Leben: Roman (German Edition)

Titel: Neue Leben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingo Schulze
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an den Fahneneid zu erinnern, den ihm Joachim vor Wochen abgeschrieben hatte. Diesen Stefan ließ er den Fahneneid aufsagen, und Bernadette mußte es mit anhören. Ich schwöre, sagte Stefan, der Deutschen Demokratischen Republik, meinem Vaterland, allzeit treu zu dienen und sie auf Befehl der Arbeiter-und-Bauern-Regierung gegen jeden Feind zu schützen. Ich schwöre, jederzeit bereit zu sein, den Sozialismus gegen alle Feinde zu verteidigen und mein Leben zur Erringung des Sieges einzusetzen. Sollte ich jemals … so möge mich die harte Strafe der Gesetze … und die Verachtung des werktätigen Volkes treffen.
    »Die Frauen stürzen sich auf das Vieh, zerreißen und zerfleischen die Schafe und Rinder mit bloßen Händen, Blut spritzt, Fleischstücke bleiben in den Zweigen hängen, Knochen und Hufe fliegen durch die Luft …«
    Titus hörte das gern. Er verzog nicht das Gesicht. Auf ihn brauchte Rudolf Böhme keine Rücksicht zu nehmen.
    Joachim sagte, daß es Gewalt gewesen sei, die die Gewalt der Frauen erst hervorgerufen habe.
    »Ja, natürlich, Pentheus hört nur, was er hören will. Undaußerdem, und das sagt er auch zur Begründung, gibt es für ihn nichts Schlimmeres, als von Frauen besiegt zu werden, solche Schmach kann sich Griechenland – plötzlich geht es nicht mehr um Theben, sondern um Griechenland – nicht bieten lassen. An dieser Stelle, und da muß man Nietzsche und all jenen, die ihm folgten, recht geben, macht Pentheus keine gute Figur. Andererseits ist seine Reaktion ganz normal für einen Herrscher. Dionysos jedenfalls, gekränkt von so viel Starrsinn, warnt ihn erneut, nicht gegen einen Gott die Waffen zu erheben.«
    »Dionysos beweist Geduld«, sagte Joachim.
    Titus war enttäuscht, daß das Gemetzel schon vorüber war. Denn so war der Krieg, entsetzlich, grausam, nicht mit Worten zu beschreiben, und dieser Stefan würde dabei mittun, er schwor es doch. Und statt Rudolf Böhme zuzuhören, der über die Peripetie der Tragödie sprach, sah er, wie sich Bernadette endlich von dem Uniformierten abwandte, angeekelt von so viel Feigheit, Duckmäusertum und Kadavergehorsam.
    »Weil Pentheus alles, was er zu hören bekommt, in seine Sprache übersetzt, weil er glaubt, auf seine Fragen nicht die richtige Antwort zu erhalten, statt zu erkennen, daß er die falschen Fragen stellt, wird er untergehen. Oder kurz gesagt: Weil er nicht bereit oder nicht in der Lage ist, sich selbst in Frage zu stellen, wird ihm ein grausiges Ende zuteil«, sagte Rudolf Böhme. Und Titus hätte am liebsten gerufen: Weil er feige gewesen ist! Weil er nicht begreift, was er tut! Weil er Bernadette nicht verdient!
    »Wichser«, rief Martin.
    »Ja, Pentheus ist ein Voyeur«, sagte Rudolf Böhme. »Aber jetzt verstehen wir auch, warum er dort, wo von Weihen und Gottesdienst die Rede ist, nur Geilheit und Zügellosigkeit erkennt. Er, der sich selbst gut kennt, glaubt auch zu wissen, wie es in anderen aussieht. Was du Wichser nennst, ist trotzdem der erste und einzige Ausbruch aus seiner Starrheit. Plötzlich offenbarter eine Eigenschaft, die er selbst immerzu bekämpft und unterdrückt hat, im Staat und in sich selbst. Fürchterlich, gerade dadurch wird er vernichtet werden.«
    Während Rudolf Böhme nacherzählte, wie Pentheus in Frauenkleidung in den Kithairon schleicht, von Dionysos geschlagen mit
lyssa
, dem Wahn, dem jene Ambivalenz fehlt, welche die
mania
auszeichnet, verstand Titus, daß er handeln mußte, daß ihn und Bernadette nur eine Tat retten konnte.
    »›Bliebe Pentheus bei Verstand, würde er keine Frauenkleidung anlegen‹, sagt Dionysos«, fuhr Rudolf Böhme fort. »Und die Frage ist, ob sich Dionysos mit diesem Satz nicht selbst ad absurdum führt. Denn von nun an ist jeder Schritt ein Schritt in die Vernichtung. Dionysos begnügt sich nicht damit, seinen Widersacher zu töten, Pentheus soll durch die Hand seiner Mutter sterben.«
    Titus war heiß, sein Kopf glühte. Er versuchte, sich zum Zuhören zu zwingen und nicht an alles gleichzeitig zu denken. Aber das schaffte er nicht. Es gab zu viele Welten, zu viele Träume, zu viele Leben. Er mußte sich entscheiden.
    Rudolf Böhme sprach, als hätte er mit eigenen Augen gesehen, wie Dionysos eine Kiefer herabbiegt und Pentheus in die Krone setzt und den Stamm vorsichtig wieder in die Höhe schwingen läßt. Die Frauen sehen ihn eher als er sie und packen die Kiefer und entwurzeln sie. Pentheus reißt sich die Frauenkleider vom Leib, er fleht zu seiner Mutter, ich

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