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Neue Leben: Roman (German Edition)

Neue Leben: Roman (German Edition)

Titel: Neue Leben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingo Schulze
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paßt denn?« Rudolf Böhme sah auf seinen Teller. »Wir hatten so einen Schulwitz«, begann er. »Die alten Griechen wußten das Allerwichtigste nicht, nämlich daß sie ›die alten Griechen‹ sind, verstehst du? Die Zeit, die die Griechen zu ›alten Griechen‹ machte, förderte immer neue Bedeutungen zutage, von denen die Griechen natürlich nichts gewußt haben und auch gar nicht wissen konnten, obwohl die Worte ja von ihnen stammen. Ich werde darin etwas anderes sehen als du, und Mama sieht wiederum etwas ganz anderes darin. Und unser Freund Titus, der wird wieder etwas anderes bemerkenswert finden. Jeder hat seine eigenen Erfahrungen, also liest er dieselben Sätze anders.«
    »Stimmt das, Titus?« fragte Martin.
    »Ja, das stimmt«, sagte Titus ernst.
    »Ja, das stimmt«, ahmte Martin ihn nach.
    »Der Text ist doch nichts Totes«, fuhr Rudolf Böhme fort, »sondern etwas, was meinen Fragen auf ganz eigene Weise antwortet oder die Antwort verweigert. Da steckt eine Stimme drin, das ist eine Begegnung, ein Gespräch …«
    »Huuh!« rief Martin. »Geisterstunde mit Begeisterten!«
    Bernadettes Mutter schüttelte den Kopf und stieß empört den Rauch aus.
    »Er hat recht, Sophie«, rief Rudolf Böhme, bevor Bernadettes Mutter etwas sagen konnte. »Lesen ist immer Geisterstunde!«
    »Und worum geht’s in den Begeisterten?« fragte Titus.
    »Das verdirbt uns den Abend«, sagte Bernadettes Mutter.
    »Immerhin Goethes Lieblingstragödie, aber grausam, grau
     
    [Brief vom 25. 5. 90]
    »Jetzt hab ich den Faden verloren. Na gut«, sagte er und legte die Zeigefinger, die sich wie Hörner nach außen bogen, auf die Tischkante. »Dionysos kommt in menschlicher Gestalt – das ist wichtig, daß er menschliche Gestalt angenommen hat –, also er kommt nach Theben, um in der Stadt seiner Mutter Semele seinen Kult einzuführen. Ganz Asien huldigt ihm bereits, nur Griechenland weiß noch nichts von ihm. Semele, die Geliebte des Zeus, war der Einflüsterung Heras erlegen und hatte von Zeus den Beweis seiner Göttlichkeit gefordert. Zeus war als Blitz erschienen, und der Blitz hatte Semele getötet. Die Schwestern Semeles, die Tanten des Dionysos, jedoch behaupten, das sei nur eine Erfindung von Semeles Vater Kadmos, dem Gründer von Theben. Er habe diese Legende erfunden, um die Ehre seiner Tochter und damit des Königshauses zu bewahren. In Wahrheit habe Zeus Semele gerade deshalb erschlagen, weil sie sich zu Unrecht gebrüstet habe, von Zeus schwanger zu sein. Dionysos mißfällt das Getratsche. Deshalb, so sagt Dionysos, hat er die Frauen von Theben zu Rasenden, zu
maniais
gemacht und sie in das nahe gelegene Waldgebirge, den Kithairon, getrieben. Dionysos fordert Glauben …«
    »Was er als Gott ja darf«, fügte Joachim hinzu.
    »Wenn er sich denn auch als Gott zeigen würde«, entgegneteRudolf Böhme. »In Theben regiert Pentheus, ein Cousin von Dionysos, seine Mutter Agaue ist eine Schwester von Semele. Kadmos ist also der gemeinsame Großvater von Pentheus und Dionysos. Pentheus ist durchaus ein gottes- oder«, er nickte Joachim zu, »götterfürchtiger Mann. Nur den Dionysos schließt er von seinen Opfergaben und Gebeten aus, den aber, muß man fairerweise ergänzen, kennt Pentheus ja auch noch gar nicht.«
    Bernadette war aufgestanden und hatte begonnen, den Tisch abzuräumen, während Rudolf Böhme den Aufzug des Chores beschrieb. Titus stellte die Teller seiner Nachbarinnen auf seinen und schob den Stuhl zurück.
    »Nein«, flüsterte Bernadette und legte ihm die Hand auf die Schulter. Sie nahm ihm die Teller ab und ging in die Küche, aus der, wie im Theater, das Licht als heller Keil an den Tisch stieß und wieder verschwand. Rudolf Böhme sprach vom Auftritt der beiden Greise, des blinden Sehers Teiresias und des Stadtgründers Kadmos, die gemeinsam ins Gebirge wollen, um Dionysos zu huldigen. Er verglich sie mit Rentnern auf dem Weg in die Disko.
    Titus konzentrierte sich auf jene Stelle seiner rechten Schulter, die Bernadettes Hand berührt hatte. Viel lieber, als Rudolf Böhme zuzuhören – Titus konnte Pentheus gut verstehen, der sich über Teiresias und Kadmos lustig machte –, würde er Bernadette beim Abwasch helfen.
    Er hörte erst wieder hin, als ihre Mutter rief: »Der eine, Dionysos, schlägt die Frauen mit
mania
; der andere, Pentheus, will sie hinter Schloß und Riegel bringen. Das sollten wir mal festhalten!«
    »Das sollten wir festhalten!« stimmte Rudolf Böhme zu und sprach von der feinen

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