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Neue Leben: Roman (German Edition)

Neue Leben: Roman (German Edition)

Titel: Neue Leben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingo Schulze
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Schritte des Großvaters.
    »Du wirfst dich weg, Titus, Perlen vor die Säue!«
    Titus empfing den Großvater mit einem Lächeln. »Wo ist deine Mutter?«
    »Hier«, sagte Titus, und der Großvater drückte die Tür weiter auf.
    »Ist was passiert?«
    Titus schüttelte den Kopf und lächelte wieder. Seine Mutter rührte sich nicht und sah zu Boden, bis der Großvater wieder gegangen war.
    »Was willst du denn sagen?«
    Titus schwieg. Er hatte es einmal gesagt. Er konnte es nicht wiederholen, seine Worte blieben in den Spuren des Gesagten stecken. Aus der Küche hörte er das Radio, und ihm war, als hätte er diese Szene schon einmal erlebt.
    »Denkst du, du besserst Petersen? Oder deine Mitschüler? Die bringst du nur in Verlegenheit, in Schwierigkeiten …«
    »Soll ich denn lügen?« Jetzt sah er sie an.
    »Wer sagt denn, daß du lügen sollst?«
    Titus setzte sich gerade.
    »Du sollst was über die Bundeswehr sagen, nichts weiter.«
     
    [Brief vom 9. 6. 90]
    »Das stimmt doch alles nicht.«
    »Was stimmt nicht?«
    »Aggressor und dieses Zeugs.«
    »Woher weißt du das?«
    »Die würden uns nie angreifen!«
    »Wenn die Russen keine Armee hätten, keine Raketen … Glaubst du, der Westen würde sich nobel zurückhalten? Die haben nicht mal Allende geduldet. Denk an Vietnam! Nur weil die bessere Autos fahren und bessere Strumpfhosen haben, sind sie nicht automatisch menschlicher!«
    »Wie redest du denn?«
    »Alles würden die einkassieren!«
    »Ich denk, der Westen …«
    »Würde sich bedienen …«
    Die Verzweiflung in ihrem Gesicht war wie weggewischt. Er kam sich vor wie beim Schach, wenn sie ihm erlaubte, einen dummen Zug rückgängig zu machen. Aber er wollte nichts mehr rückgängig machen.
    »Das kannst du doch gar nicht beurteilen«, sagte Titus.
    »Stell dir einfach vor, du sprichst über Glühbirnen oder Autos oder so was in der Art.«
    »Wieso denn?«
    »Darüber weißt du auch nicht viel mehr, oder?«
    »Er will Schlußfolgerungen …«
    »Die muß jeder selbst ziehen.«
    »Mama …«
    Wo waren seine Gedanken hin, die Argumente, die er ihr hatte vorhalten wollen. Wieso konnte er sie nicht überzeugen?War er so leicht matt zu setzen? Joachim hatte recht, Gunda Lapin hatte recht, seine Mutter hatte recht, alle hatten immer irgendwie recht, nur er selbst nicht.
     
    (Oder besser als Situation in der Telephonzelle.)
    »Er hat gefragt, wie ich mich eingewöhnt habe, wie ich mit den Anforderungen und der neuen Klasse zurechtkomme, und dann gesagt, daß es kein Werbungsgespräch sei, so wie man Söldner wirbt, das sei nun Gott sei Dank vorbei. So was gebe es bei uns nicht. Aber die Arbeiter- und Bauernmacht, die uns ermöglicht, diese Bildung zu erwerben, darf wohl von denen, die sie besonders fördert, auch eine besondere Gegenleistung verlangen.«
    »Er war ganz ruhig, aber scharf, ruhig und scharf. Er hat gefragt, warum ich nicht für den Frieden bin. Ich hab ihm gesagt, daß ich natürlich für den Frieden bin. Ob ich denn auch bereit sei, mit der Waffe in der Hand meine Heimat zu verteidigen, oder ob ich tatenlos zusehen würde, wie man meine Familie ermordet.«
    »Dann werde ich Müllkutscher. Ich werde schon nicht verhungern!«
    »›Bei uns wird niemand allein gelassen mit seinen Entscheidungen‹, hat er gesagt.«
    »Einen Kurzvortrag, bis Montag.«
    »Ich weiß es doch nicht. Er hat mir ein Buch mitgegeben …«
    Dann sagte Titus lange nichts. Es war schon fast dunkel geworden.
    »Das wird immer so weitergehen«, sagte er schließlich. »Immer weiter und weiter.«
    »Ja«, sagte er dann, »ja«.
5
    Halb sechs. Titus sah die Tropfen an der Scheibe. Er drehte sich auf den Rücken und lauschte. Etwas hatte ihn geweckt, so wie früher, wenn der Kater aufs Bett gesprungen war. Alles klang nah: Die Autoreifen auf dem Asphalt, die Straßenbahn, die Busse, die hinauf zur Flugzeugwerft fuhren, die Züge in der Heide.
    Titus preßte die Augenlider zusammen. Sein Herz arbeitete sich voran, immer höher, immer dichter unter die Haut.
    Halb sieben, halb acht … er zählte es an den Fingern ab, halb eins … in sieben Stunden war es soweit – in acht Stunden würde sein Leben bereits ein anderes sein.
    Er drehte sich auf die Seite, bog das Kissen um und drückte sein Gesicht hinein, als weinte er. Die Haustür fiel ins Schloß, Schritte auf den Gehwegplatten. Die nächsten sieben Minuten wollte er genießen, als wäre es mitten in der Nacht, und die restliche Zeit immer weiter halbieren, so daß er stets noch

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