Neue Leben: Roman (German Edition)
eine Hälfte vor sich hatte. Er winkelte die Beine an und zog die Decke hoch.
Sekunden bevor er klingelte, griff Titus nach dem Wecker und stand auf. Er schloß das Fenster, ging auf die Knie und machte Liegestütze. Er schrie sich selbst jede Zahl ins Ohr. Wie ein Offizier stand er neben sich, jede Zahl ein Rutenstreich. Bei vierzig hielt er zum ersten Mal inne, er hatte keine Luft mehr, war aber gezwungen, bis zur Erschöpfung weiterzumachen. Er sah sein verzerrtes Gesicht und hörte, wie er japste. Bei siebenundvierzig spürte er die Reitgerte auf seinem Rücken nicht mehr, achtundvierzig, neunundvierzig … selbst als sein Bauch den Boden berührte, hielten die Arme noch die Schultern oben, dann lag er da und erwartete sein Urteil.
Titus war wach, wunderbar wach. Wie ein Sprinter vom Startblock sprang er auf die Beine. Er setzte Wasser auf, nahm dieButter aus dem Kühlschrank und wusch sich über der Wanne. Sieben Stunden. Er hatte nichts weiter zu tun, als bei seiner Meinung zu bleiben. Das Schlimmste, der gestrige Nachmittag mit seiner Mutter, lag bereits hinter ihm. Vielleicht würde Petersen mit ihm zum Direktor gehen. Titus lächelte, während er sich abtrocknete.
Fünf vor halb sieben verließ er die Wohnung mitsamt dem Turnbeutel, rannte, da er die Bahn kommen hörte, und sprang während des Abklingelns in den letzten Wagen.
Der Mann neben ihm roch nach Zigaretten, Rasierwasser, Alkohol und Pfefferminz. Titus drang zur Wagenmitte vor und fand an der Haltestange einen freien Platz für seine Hand. Tasche und Turnbeutel hielt er zwischen den Beinen.
Hatten die Menschen um ihn herum nicht längst eingewilligt, ihre Lebenszeit mit dem kleinstmöglichen Aufwand herumzubringen, als gelte es, die Kräfte für das Jenseits zu schonen? War denn an keinen dieser Menschen je der Ruf Gottes ergangen?
Am Platz der Einheit mußte er aus der 7 aussteigen und hinüber zur Haltestelle der 6 laufen. An der Fußgängerampel stand ihm seine Mutter genau gegenüber. Er bemerkte sie nicht und erschrak dann, als er seinen Namen so dicht neben sich ausgesprochen hörte.
»Guten Morgen, Titus«, sagte sie. Sie umarmten sich.
»Du mußt es nur vorlesen«, sagte sie und hielt ihm Buch und Zettel hin. »Zehn Minuten, wenn du langsam liest.«
Er sah auf die Zettel. Das Buch lag in einer Plastetüte, auf der Münzen abgebildet waren.
»Das ist nicht deine Entscheidung, Titus«, sagte sie. »Ich möchte das so, und du hast dich danach zu richten.«
Titus sah zur Seite. Ihm war, als erteilte sie ihm Hausarrest.
»Du bist fünfzehn. Wenn du achtzehn bist, nach dem Abitur, dann kannst du verweigern, soviel du willst!«
»Nicht so laut«, flüsterte Titus. Wie kam sie dazu, ihn hier zu überfallen?
»Versprich mir das!« Titus sah hinüber zum Mahnmal für die Rote Armee; der Soldat mit Fahne holte zum Wurf mit der Handgranate aus. Er zielte genau auf seine Mutter und ihn.
»Du mußt es mir versprechen!«
»Ich will es versuchen«, sagte Titus.
»Nicht versuchen!« rief sie streng. »Das hat nichts mit ›versuchen‹ zu tun. Du machst, was ich dir sage, hast du verstanden, Titus?«
»Mama«, sagte er und lächelte. Er verstand nicht, was in ihm vorging. Es war wie ein Taumel, etwas löste sich in ihm, etwas Angenehmes. Sie verbot es ihm. So einfach war das. Plötzlich rückte alles wieder an seinen Platz. Er versuchte sein Lächeln zu unterdrücken; leidvoll wollte er seine Mutter ansehen. So widerstandslos durfte er sich nicht geschlagen geben. Er mußte ihr widersprechen.
»Ich habe mich entschieden«, sagte Titus. »Ich geh nicht zur Armee.«
»Dagegen habe ich nichts«, sagte sie. »Aber sag es nicht jetzt, sondern wenn es soweit ist, vor der Einberufung.«
»Petersen fragt jetzt danach. Ich will nicht mehr lügen!«
»Es ist nicht deine Entscheidung, Titus! Ich will, daß du den Vortrag hältst. Und deshalb hältst du ihn auch. Und wenn er dich fragt, dann sagst du, was du bisher gesagt hast, achtzehn Monate und keinen Tag länger.«
»Ich lese keine Lügen vor!«
»Wieso denn Lügen? Ich hab den Firlefanz weggestrichen. Du erzählst was von den Nazi-Generälen, die sie da alle hatten und haben, von den Kasernennamen, den alten Liedern, die sie immer noch grölen, den Revanchistentreffen, vor allem aber vom Geld. Die ganzen Firmen, die davon profitieren. Und wer anWaffen verdienen will, braucht Angst und Krieg. Mußt kein schlechtes Gewissen haben, mußt du sowieso nicht, aber das hier …« Sie drehte sich um,
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