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Neue Leben: Roman (German Edition)

Neue Leben: Roman (German Edition)

Titel: Neue Leben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingo Schulze
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Barrista fände. »Speziell«, sagte ich und wollte mich gleich verbessern. Ich mag dieses Wort nicht. Doch Jörg stimmte mir sofort zu. »Speziell« treffe es vielleicht am besten. »Wie auch immer«, sagte er, an Georg gewandt, »Barrista will uns! Uns und niemanden sonst!«
    Jörg war gegen acht in den »Wenzel« gefahren, wo er Barrista tatsächlich beim Frühstück getroffen und mit ihm gemeinsam »ein Ei geköpft« habe, wie er sich ausdrückte. Barrista habe ihn nicht nur über die anderen Gäste aufgeklärt, sondern auch deren Gestik und Redeweise nachzuahmen gewußt. »Saukomisch!« hatte Jörg das gefunden.
    Was Barrista vom Erbprinzen erzählt habe, lasse ihn, Jörg, bei aller gebotenen Vorsicht mit Interesse und Neugier der Visite des alten Herrn entgegensehen. Der einzige Vorbehalt auf seiten Barristas sei ein »vernünftiger Wahlausgang« gewesen.
    Als Fred auftauchte, stellte ich ihn zur Rede. Er aber machte auf der Stelle kehrt, ließ die Türen hinter sich offen und – schaltete das Licht an. Der Flur erstrahlte in nie gekannter Pracht. Fred behauptete, er habe die Glühbirnen bereits gestern vormittag ausgewechselt, was alle außer mir bemerkt hätten …
    In der Hoffnung, daß wenigstens Du mir glaubst!
    Dein E.

 
     
    Sonnabend, 17. 2. 90
     
    Lieber Jo!
     
    Jetzt habe ich wieder Deinen Namen getippt, doch jener Mensch, der den letzten Brief an Dich geschrieben hat, selbst derjenige, der vor zweieinhalb Tagen mit den Zeitungsbündeln auf den Markt gezogen ist, erscheint mir heute fremd und kindlich. Erwarte keine Epiphanien! Alles verlief höchst profan. Die Zeitung, die mich beim Korrekturlesen noch so fern und geheimnisvoll anmutete, blätterte ich nun durch, erleichtert allein darüber, daß es keine weißen Stellen gab. Es mußte schnell gehen. Die Fahrer standen sich seit Mittag die Beine in den Bauch. Die Freiwilligen aus der »klartext«-Zeit hatten die Kaufhallen unter sich aufgeteilt. Das Telephon klingelte unentwegt. Nicht mal den Sekt, auf dem Jörg bestanden hatte, habe ich ausgetrunken. Von Georg bekam Robert eine Schaffnertasche samt einem Vorrat an Groschen überreicht. Ich hängte mir eine alte Knautschlackledertasche um, den Schulterriemen quer über der Brust. Dann hasteten wir, jeder mit zwei Bündeln zu je 250 Exemplaren, durch den Nieselregen.
    Auf dem Markt, nahe der Sporenstraße, setzten wir die Bündel ab und massierten die betäubten, von blauroten Striemen gezeichneten Finger. Fünf Verkaufsstände drängten sich aneinander, als ängstigten sie sich vor der Weite des Marktes. Uns am nächsten siedelte ein Obst- und Gemüsehändler. Das D-Mark-Schild über der paradiesischen Pracht war so groß wie überflüssig. Die Namen der exotischen Früchte, die er ausrief, hätten ebensogut orientalische Gewürze bezeichnen können. Das eigentlich Märchenhafte aber waren die Tomaten und Gurken, die Birnen und Weintrauben. Die wenigen über den Platz verstreuten Leute konnten kaum der Anlaß seines Rufens sein. DieGeschultheit seiner Stimme trieb die Künstlichkeit der Szene auf die Spitze. Er hätte auch Arien schmettern können.
    Ich versuchte, den Knoten an meinem Paket zu öffnen, ließ aber niemanden, der sich uns näherte, aus den Augen. Ich erwartete, jede und jeder würde stehenbleiben und fragen, ob wir die neue Zeitung, das »Altenburger Wochenblatt«, verkauften. Robert starrte auf meine Hände. Er war bereits so unsicher geworden, daß er gar nicht auf die Idee kam, mir sein Taschenmesser zu geben. Bereitwillig ließ er sich dann einen Packen über den Unterarm legen. Ich stellte mich neben ihn und entfaltete die Zeitung, den Titel auf Augenhöhe.
    Nachdem die ersten an uns vorübergelaufen waren, ohne sich nach dem Blatt zu erkundigen, riet ich Robert, die Leute anzusprechen. Er müsse schon sagen, was er da hätte. Statt den Mund aufzumachen, spreizte er nun, sobald sich jemand näherte, wie ein ungeschickter Kellner seinen Zeitungsarm weiter ab. Michaela hatte es unverantwortlich gefunden, ihn »zur Kinderarbeit zu verführen«. Um ihn jetzt wegzuschicken, war es zu spät, er mußte einfach durchhalten.
    Schließlich blieb mir nichts anderes übrig, als ihm zu zeigen, wie er es machen sollte. Ich ließ niemanden aus. Ich fixierte die Leute, lächelte und sprach sie an. Auch wer weiter entfernt vorüberging, entkam mir nicht. »Kennen Sie schon das neue ›Altenburger Wochenblatt‹?« rief ich. Niemand blieb stehen, niemand kaufte. Sie sahen mich nicht mal an.

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