Neue Leben: Roman (German Edition)
sich vorzustellen, wie sein Stolz auf meinen Namen im Impressum, seine Begeisterung für die Landfahrten, seine Bewunderung für die Kunst, eine Zeitung zu machen, wie all das gerade in sich zusammenbrach. Immer hatte ich Angst gehabt, die ganze Sache könnte noch scheitern, an der Genehmigung, an der Druckerei, am Transport, an unserer Unfähigkeit. Nie aber hatte ich einen Gedanken an den Verkauf verschwendet! Wenn ich mich schon bei solchen Dingen irrte, mußte ich da nicht an allem zweifeln, an meinem ganzen Kalkül? Am liebsten hätte ich aller Welt erzählt, daß wir den Erbprinzen nach Altenburg bringen werden. Ja, plötzlich wünschte ich mir den wunderlichen Clemens von Barrista her. Aus irgendeinem Grund fand ich es trostreich, an ihn zu denken. Aber ich blieb stumm, und die Leute gingen vorüber, als wäre ich unsichtbar. Doch dann …
Ich hatte mich bereits so an die Obstsirene gewöhnt, daß ich zunächst gar nichts bemerkte. Etwas allerdings war anders. Sie rief das »Wochenblatt« aus! Was heißt ausrufen! »Woochnblaaaht,Woochnblaaaht, Aaaltnburger Woochnblaaaht!« – er betonte die erste Silbe, verschluckte die zweite, stieg mit dem »aaah« sirenenartig aus dem Abgrund hinauf, um sich dann mit weit aufgerissenem Mund auf das A von Altenburg zu stürzen. Unmißverständlich folgte darauf der Imperativ: »Kauft, Leute, kauft!« und das sogleich beflissen hinzugefügte »Nur neunzig Pfennig! Neunzig Pfennig für das Aaaltnburger Wooochnblaaaht …« Der Schluß war zugleich der Anfang, ein A – O – A, das sich über dem Altenburger Markt in die Lüfte erhob.
Langsam begann sich die Stadt zu beleben, als wäre der Ruf des Obsthändlers bis nach Nord und Süd-Ost 54 gedrungen.
Eine Gruppe von Frauen umringte mich – sie alle kauften und wollten keinen Groschen zurück. Zur Unterstützung, wie sie sagten. Eine von ihnen hatte mich als den Herrn Türmer vom Theater identifiziert, der doch in der Kirche geredet hatte.
Meine Glückssträhne hielt an. In wenigen Minuten wurde ich etwa dreißig Exemplare los. Und so ging es weiter! Ich mußte nur die Zeitung hochhalten und nach dem »Wochnblaaaht« der Obstsirene den Begriff wiederholen, als erklärte ich den Umstehenden: Wochenblatt, er meint unser »Wochenblatt«. Und dann – zuerst glaubte ich, eine Frau zu hören – erkannte ich in dem »Wochnblaat, Wochnblaat!« Roberts Stimme.
Ich brauchte nichts mehr zu sagen, von nun an kauften die Leute von selbst.
Zum Schluß war es so dunkel, daß ich kaum noch die Gesichter unterschied. Das Wechselgeld konnte ich bereits blind herausgeben, die Scheine stopfte ich in die Hosentasche. Meine Füße waren eiskalt, die Zehen spürte ich gar nicht mehr. Die Knautschlackledertasche hing mir schwer am Hals. Und was glaubst Du, an wen ich mein letztes Exemplar verkaufte? Ja, anClemens von Barrista. Aber er und sein Wolf schienen mich in der Dunkelheit nicht wiederzuerkennen. Oder sollte ich mich geirrt haben?
Robert war noch beschäftigt. Nur an seinem Lächeln, das er nicht unterdrücken konnte, merkte ich, daß er mich gesehen hatte. Erwin, die Obstsirene, wollte nichts von Dank wissen. Er gab mir einen Zettel, eine Annonce. Die sollten wir jede Woche bringen – und überreichte mir einen D-Mark-Hunderter! Roberts restliche Zeitungen überließen wir ihm, die wollte er zu Hause in Fürth verteilen.
Mit leeren Händen traten wir den Heimweg an, die prallvollen Taschen schlugen uns bei jedem Schritt gegen die Hüfte. Tausend war Rekord, ein Zwanzigstel der Auflage. In vier Stunden hat Robert neunzig Mark verdient (20 Pfennig pro Exemplar), dazu das Trinkgeld.
Jo, mein Lieber! Es ist solch ein Glück, wenn man etwas Selbstgemachtes verkauft! Mein Lorbeerkranz ist das Eichenlaub auf jeder Münze!
Dein E.
PS : Euer Exemplar kommt mit Streifband. Die Photos sind leider sehr dunkel.
Dienstag, 20. 2. 90
Lieber Jo!
Wir haben gearbeitet wie die Teufel. Trotzdem war ich erst nach Mitternacht zu Hause. 55 Aber vier Stunden Schlaf reichen, undallmählich, da ich mir mit den Briefen die Zeit vertreibe, lerne ich, diese langen Morgen zu lieben. 56
Ich werde Dich nicht wieder mit Zeitungsdingen langweilen, muß jedoch etwas nachtragen, das ich nicht erwähnen würde, wäre es nicht der Anlaß unserer ersten Krise geworden. 57
Habe ich Dir schon von dem »Propheten« erzählt? Er ist ein komischer Kauz. Das merkt jeder schnell. Der Prophet bewegt fortwährend seinen Mund, als hätte er etwas
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