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Neue Leben: Roman (German Edition)

Neue Leben: Roman (German Edition)

Titel: Neue Leben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingo Schulze
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drechselte Komplimente. Soviel hatte ich verstanden. Seine Diktion reizte zum Lachen. »Sind höchst willkommen. Ja, sind Sie«, brachte ich hervor und fürchtete schon, er könnte das als Parodie deuten. Wie ausgefallene Plomben bewegte ich die Worte im Mund, und nicht viel fehlte, und ich hätte mich wie ein Lakai verbeugt.
    Barrista hatte sich warmgeredet, sprach, wenn ich mich recht erinnere, weiter akzentfrei und bewegte seine Hände wie unter einem Wasserhahn. Voller Entschiedenheit rief er: »Ich nicht!Gehöre nicht zu denen, Reden ist Silber, Schweigen Gold! Alles Mumpitz, nein, nein, mein Lieber«, er lächelte, »Rücksichten nicht mal im Interesse der Betroffenen, weiß jedes Kind, wirklich, jedes Kind! Das Jammern, je früher, desto besser, abgewöhnen, weiß selber, hilft nichts, keine Erziehung, werden es merken, niemand mehr da, nirgendwo, kein Beichtvater, unbesetzte Stelle, zweiwertig, dreiwertig, eine enorme Veränderung, absolute Leere, hüben wie drüben, einzigartige Chance!«
    Ich versuchte gar nicht mehr, seinen Gedankensprüngen zu folgen, sondern bereitete ein paar Sätze über mich vor. Barrista, auf den Stuhl gefläzt, nickte mir übertrieben zu, als ich mich anschickte zu reden, zog die Augenbrauen hoch und ermunterte mich, seinen schüchternen Schüler, der an kurzen Hauptsätzen Halt suchte, mit ständigen Ahs und Ohs. Das war alles schrecklich simpel, doch es half, sein Zuspruch beruhigte mich. Als ich verstummte, stutzte Barrista. Was erwartete er? Ich zuckte mit den Schultern.
    »Nun wird er wohl nicht mehr kommen!« seufzte er und kramte in seiner Hosentasche. Bevor ich fragen konnte, wen er meinte, entschuldigte er sich. »Oh, pardon, pardon! Es ist spät geworden.« Eingehend betrachtete er eine Uhr ohne Armband. »Zehn vor zwölf«, sagte er und unterdrückte ein Gähnen.
    »Zehn vor zwölf?«
    »Ich dachte erst«, überging er meinen Ausruf, »Ihre Augen leuchteten vor Begeisterung. Aber, lieber Herr Türmer, Sie sollten sich schonen. Darf ich Sie mitnehmen, darf ich Sie nach Hause fahren?«
    Ich zeigte zum Fenster. »Habe selbst –« war alles, was ich hervorbrachte. Ich meinte das Auto.
    »Dann darf ich Sie vielleicht hinausgeleiten?« Einer Collegemappe, die mir bis dahin verborgen geblieben war, entnahm er zwei rote, bereits etwas abgebrannte Kerzen, hielt ihre Dochtezusammen und entzündete sie gleichzeitig mit einem Feuerzeug. In jeder Hand eine Kerze, die Collegemappe unter dem linken Arm, stand er da wie eine Weihnachtsfigur aus Seiffen, die Tiefseeaugen auf mich gerichtet. Du kennst meine Schwäche für zuvorkommende Leute, trotzdem mußte ich lächeln. Er wartete, bis ich meine Sachen zusammenhatte. Der Wolf bewegte die Vorderpfoten. Bevor ich das Licht ausschaltete, sah ich, wie Barrista Wachs über den Handrücken rann und vor der Schnauze des Wolfs auf die Dielen tropfte. Ich schob mich an den beiden vorbei, öffnete die Tür zum Vorraum, dann die zum Flur und tastete nach dem Schalter.
    »Warum mißtrauen Sie mir?« fragte er. Seine Augen schwammen auf mich zu. Außer dem Klacken des Schalters tat sich nichts. »Kein Problem, kein Problem«, rief er und hob die Kerzen höher. Ich war beschämt und wütend, letzteres um so mehr, als ich schon Freds Ausreden hören konnte.
    »Im Osten habe ich mir ganz fix angewöhnt, auf alles vorbereitet zu sein.« Wieder deutete er eine entschuldigende Verbeugung an, weil er mir nicht den Vortritt ließ. »Es ist eine Kunst, mit den Leuten umzugehen, wirklich eine Kunst.« Unbeirrt humpelte er vor mir her, die brennenden Kerzen hielt er, so weit es ging, vom Körper entfernt. »Auch das Arbeiten will gelernt sein, machen Sie da bloß keine Ausnahmen!« Er kam mir zuvor und öffnete mit dem Ellbogen die Haustür. Der Zugwind löschte die Kerzen. Clemens von Barrista jedoch schritt in dem trüben Laternenlicht weiter, als leuchtete noch immer er den Weg. Da begann die Glocke der Martin-Luther-Kirche zu schlagen. Im nächsten Augenblick wurden die Laternen abgeschaltet. Ein kurzes Flackern, und die Nacht hatte Barrista und seinen Wolf verschluckt. Eine Weile lauschte ich seinen Schritten und dem englischen Singsang, rief ihm zweimal »Auf Wiedersehen!« hinterher und erwartete, jeden Moment das Licht seines Autoszu sehen. Es blieb dunkel, und nach dem letzten Glockenschlag war es überall still.
    Ich schlief wie ein Stein.
    Enrico
     
    PS : Als ich heute in die Redaktion kam, wußte Jörg bereits alles und fragte, wie ich denn

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