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Neue Leben: Roman (German Edition)

Neue Leben: Roman (German Edition)

Titel: Neue Leben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingo Schulze
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Erst am Vortag war ein großer Artikel über uns auf der Kreisseite der LVZ 52 erschienen. Selbst die fanden uns wichtig.
    Ab und zu wurde ein Fischbrötchen gekauft. Ich weiß nicht, wie mir allein zumute gewesen wäre. Roberts Gegenwart quälte mich.
    Plötzlich kam eine ältere Frau, ihren Einkaufsbeutel hin und her schlenkernd, auf uns zu und fragte, was wir denn da hätten.
    »Na ja«, sagte sie und betrachtete die Titelseite. Ihr Mantel war falsch geknöpft und hing schief. »Dann geben Sie mal her.« Ihr Arm tauchte bis zum Ellbogen in den Einkaufsbeutel. Ich verlangte neunzig Pfennig und überreichte ihr eine Zeitung aus der Mitte des Stapels. Ihr Zeigefinger stocherte im Kleingeld, bis sie ein Markstück fand. Ich ließ einen Groschen in ihre ausgestreckte Hand fallen. Nachdem sie die Zeitung gefaltet und in ihrem Beutel verstaut hatte, sah sie mich an, als wollte sie sich vergewissern, mit wem sie es zu tun gehabt hatte, und ging nach einem lauten »Wiedersehen« weiter.
    Es funktioniert, dachte ich. Schon dieser eine Erfolg machte mich süchtig. Ich brauchte mehr davon. Die Mark gab ich Robert.
    Kurz darauf hatte ich erneut Glück. Ein schlanker Mann mit glatten schwarzen Haaren hielt mir ein Markstück entgegen, winkte ab, als ich den Groschen hochhielt, und lächelte derart herzlich, daß seine Augen wie bei einem Kater hinter schrägen Schlitzen verschwanden.
    Danach verlor ich alle Bedenken, trat auf zwei Frauen zu und fragte, ob sie das »Altenburger Wochenblatt«, die neue Zeitung für das Altenburger Land, schon hätten. Ich hielt mich an die jüngere. Erst als ich unmittelbar vor ihr stand, bemerkte ich die unzähligen Fältchen in ihrem Gesicht, unter denen ihre mädchenhaften Züge verschwammen. Sie griff bereits nach dem Portemonnaie, als mich ihre ganz in Schwarz gekleidete Begleiterin anfuhr, was das denn sei. »Ist doch nicht wichtig!« unterbrach mich die Schwarze. »Ist nicht wichtig!« Mit dem Handrücken schlug sie gegen die Zeitung und rief: »Neunzig Pfennig? Neunzig Pfennig!«
    »Neunzig Pfennig«, beharrte ich und hätte in diesem Momentnur die Mark vom Handteller der Sanften nehmen müssen.
    »Ist doch nicht wichtig! Nicht wichtig!«
    Die Hand schloß sich langsam, und ich starrte auf die kleine Faust, die zart, ja porzellanhaft wirkte.
    Wut und Verzweiflung stiegen in mir auf. »›Altenburger Wochenblatt‹!« schrie ich den beiden Frauen nach. »›Altenburger Wochenblatt‹!« Man muß mich noch an der Martin-Luther-Kirche 53 gehört haben.
    Ach, Jo! Du wirst nicht verstehen, wie ich mich wegen einer Lappalie so gebärden konnte. Doch auf einmal war alles wieder da, das letzte halbe Jahr, die Angst, die Verzweiflung, die Vorwürfe, der Horror des Theaters, der Horror meines Krankenzimmers, meine Mutter, Michaela, Vera, die ganze Bodenlosigkeit. Und neben mir Robert, der sich auf die Bündel, auf eintausend Zeitungen gesetzt hatte!
    Ich verlor alle Scheu! Ich verstand erst gar nicht, woher der Rhythmus kam, in dem ich AL-TEN-BUR-GER-WO-CHEN-BLATT skandierte! Ich hämmerte, klopfte, schlug der Schwarzen jede Silbe meines Trochäus mit gleicher Kraft ins Kreuz, AL-TEN-BUR-GER-WO-CHEN-BLATT . Ich tat es für Robert, für mich, für Michaela, für Georg und Jörg, für Mutter, für Vera, für die Stadt, für das ganze Land. Nach jedem Vers atmete ich freier. Jemand hielt mir ein Zweimarkstück vor die Nase, er verlangte tatsächlich zwei Zeitungen und kein Wechselgeld. Und auch Robert wurde sein erstes Exemplar los. Zusammen verkauften wir kurz hintereinander fünf Zeitungen. Als würde ich nun nachholen, was ich im Herbst versäumt hatte, rief ich ALTEN-BUR-GER-WO-CHEN-BLATT auf die Hammerschlägevon NEU-ES-FO-RUM-ZU-LAS-SEN ! Das war jetzt meine Revolution!
    Der Obsthändler fühlte sich offenbar herausgefordert und antwortete mit einem sirenenartigen Geheul.
    Zehn Minuten später bezog ich mit zwei Bündeln auf Höhe des Rathauses Posten. Von dort aus erschienen mir die Marktstände wie die heimatliche Küste. Ich weiß nicht, woran es lag, war ich erschöpft, hatte ich mich erkältet, fehlte mir Robert, jedenfalls verloren meine Rufe an Kraft. Nach jedem Vers hielt ich inne, um zu sehen, was geschah.
    Ich verlegte meinen Standort erneut, diesmal etwas höher, an die Ecke zum Weibermarkt. Dort gab es mehr Leute. Und ich sah Robert, wie er den Vorübergehenden die Zeitungen auf seinem Arm entgegenhielt. Ich war für dieses Trauerspiel verantwortlich. Es gehörte nicht viel dazu,

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