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Neue Leben: Roman (German Edition)

Neue Leben: Roman (German Edition)

Titel: Neue Leben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingo Schulze
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unterkühlt. Ich brauchte tausendfünfhundert Anschläge, nicht mehr! Nach einer Stunde hatte ich noch keinen vernünftigen Satz zusammen. Es war wie verhext. Als ich nachlegen wollte, war keine Glut mehr im Ofen. Und ich bekam den Geruch von »nassem Hund« nicht aus der Nase. Ich wusch mir die Hände, schnüffelte am Papierkorb, sah hinter die Maschine, fluchte. Sobald ich die Finger auf die Tasten legte, war »nasser Hund« wieder da.
    In der Nacht träumte ich ununterbrochen und fühlte mich morgens zerschlagen. Den Tag über hatte ich Termine in Meuselwitz und in Lucka, sammelte zwischendurch in den Dörfern Nachrichten ein und ließ mir von der Wintersdorfer Sekretärin einen Kamillentee kochen.
    Zurück in der Redaktion, fand ich in meinem Fach Photos, darunter jene, die ich im Tierheim gemacht hatte. Im Ofen war noch Glut. Diesmal stopfte ich ihn voller Briketts, als plante ich eine Nachtschicht, und setzte mich an die Maschine.
    Die Augen schmerzten. Von Zeit zu Zeit ging ein Schauer über meinen Rücken. Die Kälte weicht aus den Knochen, dachte ich; mir war wohl bei diesem Gedanken. Und dann – es klingt mysteriöser, als es in Wirklichkeit war – hatte ich das undeutliche Gefühl, jemand würde mir vorsichtig von hinten einen Hut aufsetzen.
    Am Tisch saß ein Mann (wenn nicht abgeschlossen ist, hält sich sowieso niemand an Öffnungszeiten), einer, den ich irgendwoher kannte, mit dem sich etwas Erfreuliches verband, kein Heimatforscher.
    »Lassen Sie sich bitte nicht stören«, sagte er sehr liebenswürdig und grüßte mit einer angedeuteten Verbeugung. »Ich warte ergebenst, es ist allein meine Schuld, daß wir uns verfehlt haben, bitte, fahren Sie fort.« So in etwa drückte er sich aus, als wäre es in Ordnung, wenn ich ihn ignorierte und weitertippte. In seinem ganzen Gestus entsprach er dem, was man sich unter einem alten Kavalier vorstellt – er ist höchstens vierzig –, Wortwahl und Aussprache erinnerten mich an die ungarischen Studenten in Jena, die ihr Deutsch bei Rilke und Hofmannsthal gelernt haben, sein rollendes »r« paßte gut dazu.
    »Wir waren für zwölf verabredet«, versuchte er mir auf die Sprünge zu helfen, »ich hoffe, Ihnen sind aus meinem Fernbleiben keine Unannehmlichkeiten entstanden. Ich stehe zu IhrerVerfügung, wann immer es Ihnen konveniert.« Konveniert! Er verwendete ständig Worte, die er offenbar nur mit einer Verbeugung auszusprechen wagte. Gerade wollte ich sagen, daß ich mich an keine Verabredung erinnern könne, als aus seiner Richtung ein Laut kam, ein verhaltenes Jaulen – oder wie beschreibt man das Gähnen eines Hundes? Das also war’s! Der Hund auf den Tierheimphotos! Und daneben er, deutlich genug, obwohl die Brille das Blitzlicht reflektiert. Seinen Namen hatte er mir buchstabiert, ich hatte aber vergessen, ihn nach Beruf und Wohnort zu fragen, und mich darüber geärgert. Das konnte ich nun nachholen.
    Den Hund hatte ich als »leicht wölfisch« charakterisieren wollen, vor allem die Schnauze, die Statur nicht so kräftig wie bei einem Schäferhund, das Fell schwarz-grau. Auf einem Auge ist er blind. Sein Schicksal sollte die Rahmenhandlung bilden.
    »Ihre gute Tat wird bekannt werden!« sagte ich und brachte ihm die Photos. Er sah sie durch, doch bevor ich wieder saß oder mir gar Zeit geblieben wäre, seinen Namen zu finden, lagen sie wieder vor mir, genau an der Tischkante. Am liebsten hätte ich ihn gebeten, sein Kunststück zu wiederholen, derart lässig hatte er den kleinen Stapel aus dem Handgelenk geworfen. Nichts Herablassendes sprach daraus, eher eine sympathische Distanz sich selbst gegenüber.
    Er beugte sich seitlich zu dem Hund hinab, ein Singsang, beruhigend, ja einlullend – auf englisch!
    »Ich hoffe, keine Indiskretionen befürchten zu müssen!« rief er, wie ich fand, mit englischem Akzent. »Von Literatur und Ewigkeit verstehe ich nichts!« fuhr er fort. »Meine Visionen sind anderer Art!« Ich hatte keine Ahnung, warum er das sagte, und dachte, mir sei etwas entgangen.
    Er wolle damit lediglich ausdrücken, sprang er mir bei, daß es besser wäre, wenn die Leute, zum Gegenstand eines Artikelsgeworden, das Gedruckte nicht selbst lesen müßten. Gezwungenermaßen nehme er das eine oder andere, das man über ihn in der Öffentlichkeit verbreite, zur Kenntnis. Oft seien es die Journalisten selbst – wenige, die sich so bezeichneten, verdienten ihren stolzen Titel –, die ihn zum Lesen nötigten und sich dann wunderten … – er

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