Neue Leben: Roman (German Edition)
hackten sie aus lauter Spaß die Straßen wieder auf, die sie gerade erst mit Asphalt überzogen hatten. Über jedem Geschäft, über jeder Tür blinkte Reklame, weshalb die Nächte taghell blieben und von einem Verkehr durchflutet waren wie bei uns nicht mal nach der Maidemonstration. Trotzdem bekam man im Westen in der Straßenbahn, im Bus oder Zug immer einen Sitzplatz. Im Westen duftete das Benzin wie Parfüm, und die Bahnhöfe glichen tropischen Gärten, in denen man den Reisenden wundervolle Früchte darbot. Im Westen trug man in der Schule lange Haare und Jeans und kaute Kaugummis, mit denen sich kopfgroße Blasen machen ließen. Außerdem lag der Weltmarkt im Westen. Ich wußte nicht, wo genau, auf jeden Fall aber im Westen. Öffnete man denn nicht bei dem O von Ost den Mund wie ein Tölpel? Und zischte dieses West nicht schon an sich dahin wie ein Lamborghini Miora auf Superfast-Reifen? Osten klang nach bewölktem Himmel und Omnibus und Baugrube. Westen nach Asphaltstraßen mit gläsernen Tankstellen, nach Terrassen mit Strohhalmgetränken und Musik über einem blauen See. Städte mit Namen wie Cottbus, Leipzig oder Eisenhüttenstadt konnten einfach nicht im Westen liegen. Wie anders klang dagegen Lahr, Karlsruhe, Freiburg oder Garching. Vera und ich – soviel wir uns sonst stritten – waren uns einig, wenn es um den Westen ging.
Nur eins noch (haben Sie Geduld mit mir): Pakete waren etwas, was grundsätzlich aus dem Westen kam. Der Inhalt wurde nicht gleich weggeräumt, sondern blieb zunächst auf dem Wohnzimmertisch liegen. Erst im neuen Jahr verschwanden Kaffee, Seife, Strumpfhosen in Schränken und Schubladen, doch nie verloren sie das Aroma ihrer Herkunft. Sie blieben gegen jede Vermischungresistent und bildeten eine eigene Kategorie von Dingen. Ihr Wert erschöpfte sich aber nicht in ihrem Gebrauch oder Verzehr. Nie wären wir auf die Idee gekommen, eine Kaba- oder Carobüchse wegzuschmeißen. Unser ganzer Keller stand voller solcher Büchsen und Dosen.
Oft stieg ich in den Keller wie Willi Schwabe in seine Rumpelkammer – sagt Ihnen Willi Schwabe etwas? 89 Und wie er hier eine Filmrolle findet und da einen Gegenstand, der ihn an einen Schauspieler erinnert, so kündeten die Kaba- oder Carodosen, in denen Nägel oder Schrauben aufbewahrt wurden, von glücklichen Feiertagen und dem Westen. Heute würde ich sagen: Sie mußten erst ihren Gebrauchswert verloren haben, um heilig zu werden.
Diese Funde bewiesen zudem, daß Tante Camilla und Onkel Peter schon immer an uns gedacht hatten, sie, die unsere geheimsten Wünsche kannten und wollten, daß es uns gutging.
Wenn ich betete, betete ich zum lieben Gott, der alles von mir wußte, immer an mich dachte und immer für mich dasein würde. Auch wenn er anders aussah als Tante Camilla und Onkel Peter, mußte er doch so sein wie Tante Camilla und Onkel Peter, nur noch etwas mehr wie Tante Camilla und Onkel Peter.
Roberts Wecker hat geklingelt. 90 Ich werde Frühstück machen, auf die Briefträgerin warten und nachmittags wieder zum Arzt gehen.
In Gedanken ganz bei Ihnen
Ihr Enrico T.
PS : Von Tante Camilla habe ich zum ersten Mal gehört, ich sei ein Dichter, weil ich in meinem Dankesbrief geschildert hatte, wie es bei uns zu Weihnachten zugegangen war und wie wir es kaum hatten erwarten können, ihr Paket zu öffnen – was eine Lüge gewesen war. Denn Tante Camilla stopfte ausschließlich Süßigkeiten hinein (und Kaffee und blöderweise auch Kondensmilch, die bei uns nun wahrlich nicht rar war), hingegen konnte man im Paket von Onkel Peter Matchbox-Autos oder sogar Kassetten finden, weshalb seines das eigentliche Ereignis war. Tante Camilla schrieb zurück, mein Brief sei der schönste gewesen, den sie je bekommen habe, eine richtige kleine Geschichte, die sie schon oft vorgelesen habe.
Montag, 12. 3. 90
Ach, Verotschka, das war zwei Stunden zu früh! 91 Jetzt bezahlst Du Deine Unzeitigkeit mit Angst! Aber diese Zeilen werden wohl genauso verlorengehen wie all die anderen. Es ist so absurd!
Wenn wenigstens Georg oder Jörg den Hörer abgenommen hätte! Aber Ilona! Ein Unfall! Die Schwester! Wie herrlich! Mir sagte sie, sie habe Dich beruhigt und über alles informiert. Und wie sie Dich beruhigt haben wird! Am Ende wirst Du es für ein gnädiges Schicksal halten, daß Dein Bruder nur im Rollstuhl sitzt statt im Hades.
Mir brummt der Schädel, eine Gehirnerschütterung, mehr aber auch nicht. Was hat sie Dir über Nicoletta
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