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Neue Leben: Roman (German Edition)

Neue Leben: Roman (German Edition)

Titel: Neue Leben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingo Schulze
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paar Tagen erhalten werden, scheinen diese Zeilen ihren Sinn zu verlieren. So lange will ich nicht warten!
    Die Kopfschmerzen sind erträglich geworden. Den Arzt in der Poliklinik überredete ich, mir die Halskrause abzunehmen. Die Hände an meinen Schläfen, sah er mich derart erwartungsvoll an, als könnte mein Kopf herunterfallen. Ich solle mir vorstellen, mein »Haupt« auf dem Hals zu balancieren, so ergebe sich die richtige Haltung ganz von selbst. Am spanischen Königshof hat man sich wohl nicht würdevoller bewegt als ich mich in meinen vier Wänden.
    Ich verbot mir, in die Redaktion zu gehen. Die Erwartung, dort könnte ein Gruß von Ihnen auf mich warten, und sei es ein flüchtiger, ziehe ich der Enttäuschung, daß dem nicht so ist, entschieden vor.
    Vielleicht liege ich allein deshalb im Bett, um ungestörter an Sie denken zu können. Wie viele Briefe habe ich Ihnen schon geschrieben, mit geschlossenen Augen, die Hände über dem Bauch gefaltet. Könnten wir unser Gespräch doch dort wiederaufnehmen, wo es unterbrochen worden ist!? Aus Wut und Enttäuschung über den verdorbenen Tag und Ihre verfrühte Abreise war ich nicht mehr in der Lage, das Glück zu sehen, daß Ihr Besuch bedeutet, überhaupt das Glück, daß wir am Leben sind.
    Wie kamen Sie denn darauf, in dem Unfall einen Anschlag zu sehen? Das erste, was Sie riefen, war: »Ein Anschlag!«
    Daraufhin bildete ich mir sofort ein, die beiden Männer in dem weißen Lada zu kennen. Ich gebe mir alle Mühe, das als Hirngespinst abzutun, aber auch als Hirngespinst gefällt es mir nicht. Jetzt, beim Schreiben, klingt es völlig absurd. Und doch erscheinen mir die beiden Gestalten immer deutlicher. Es ist wieim Märchen, wenn der Teufel gerade in jenem Augenblick seinen Tribut fordert, da man ihn bereits vergessen hat. 86
     
    Liebe Nicoletta, es ist Abend – und wieder kein Brief von Ihnen. 87 Ich weiß, ich sollte das nicht schreiben.
    Den Tag habe ich in seltsamer Stimmung verbracht. Ich roch die merkwürdigsten Dinge, wähnte mich plötzlich in einem anderen Zimmer und brauchte, als würde ich erwachen, ein paar Sekunden, um wieder zu mir zu kommen. An solchen Tagen genügt eine Unachtsamkeit, und man stürzt ab und fällt und fällt. Ist es nur Einbildung, wenn man den Griff tatsächlich spürt, obwohl die Hand längst losgelassen hat? Soll ich sagen, die Vergangenheit greift nach mir, oder vielleicht besser: Ich bin nie jung gewesen? Glauben Sie, daß jemand wie ich dazu fähig ist, eine Waffe zu stehlen? Verzeihen Sie das Geraune. Das klingt alles so abgeschmackt. Ich habe einfach Angst, in jenen Zustand zurückzufallen, in dem ich mich Ende letzten Jahres befand. Ich war krank und lag genauso wie jetzt in meinem Zimmer. Und das ist, ich übertreibe nicht, die schlimmste Zeit meines Lebens gewesen.
    Seit ein paar Wochen trage ich eine Frage mit mir herum. Anfangs nahm ich sie nicht ernst; sie war mir zu profan. Aber mittlerweile glaube ich an ihre Berechtigung. Sie lautet: Auf welche Art und Weise kam der Westen in meinen Kopf? Und was hat er da angerichtet? 88
    Ich könnte natürlich auch fragen, wie der liebe Gott in meinen Kopf kam. Das liefe auf dasselbe hinaus, wäre allerdings weniger auf die Besonderheit meines Sündenfalles gerichtet.
    Eine genaue Antwort vermag ich selbstredend nicht zu liefern. Ich kann nur versuchen, mich heranzutasten.
    Eines der wenigen Rituale, die bei uns zu Hause gepflegt wurden, war das Wiederbeleben frühester Erinnerungen. Das Ziel war erreicht, wenn meine Mutter rief: »Unmöglich! Da warst du erst zwei!« oder: »Mit anderthalb – das ist ausgeschlossen!« Noch bei der fünften Wiederholung gelang ihr diese Fassungslosigkeit überzeugend. Meine Erinnerungen bestätigt zu finden befriedigte mich zutiefst. Schüttelte meine Mutter ungläubig den Kopf, fühlte ich mich als eine Art Wunderkind. (Vera, meine Schwester, versäumte nie, Berichtigungen anzubringen; gegen ihre vier Jahre Vorsprung war ich machtlos und mußte mir anhören, wie glücklich man ohne mich gewesen war.)
    Hier eines meiner Bravourstücke: Ich erwache, im Zimmer ist es dunkel, im Vorraum Licht und Stimmen. Meine Mutter trägt mich hinaus, meine Großmutter sagt: mein Herzchen. Über einer Sessellehne liegen zwei Mäntel mit Pelzkragen und ein Hut – Fremde! Fremde sind in unserer Wohnung! Ich beginne zu weinen. Die Fremden haben sich versteckt. Man gibt mir ein Duplo, das wie eine halbgeschälte Banane aus dem Papier ragt. Meine Schwester

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