Neue Leben: Roman (German Edition)
erzählt? Sie ist mit einer Beule davongekommen.
Wir waren, von Leipzig kommend, über Borna in Richtung Frohburg gefahren. Wir wollten zum Schwind-Pavillon. 92 Schuld war eigentlich niemand. Ein Lada (ich glaube, er war weiß) überholte uns in einer Linkskurve, drängte sich wegen des Gegenverkehrs zwischen uns und das Auto vor uns, ich bremste – im selben Moment krachte die Frontscheibe, vor mir nur noch Eiskristalle 93 . Ich schlug mit der Hand dagegen, um wieder etwas sehen zu können, der Wagen schleuderte, und schon ging es holterdiepolter runter von der Straße – ich glaubte den zweiten Knall bereits zu hören, den Schlag zu spüren. Plötzlich Stille. Wir standen und starrten durch das große Loch in der Scheibe. Die Stille war märchenhaft.
Mir tat nichts weh, ich wäre am liebsten einfach sitzen geblieben. Wir hatten genau die Lücke zwischen den Bäumen erwischt, auf Nicolettas Seite betrug der Abstand höchstens einen halben Meter.
Das Blut bemerkte ich erst später. Nicoletta behandelte mich mit ihrem Taschentuch. Und mir, Du kennst mich ja, wurde übel. Ich kippte die Lehne zurück, schloß die Augen und überließ alles Weitere Nicoletta. Die Leute, die zu Hilfe kamen, waren mir lästig. Jemand breitete eine Decke über mich und versuchte unaufhörlich, sie auf beiden Seiten festzustecken. Ich stieß ihn weg, weil ich glaubte, mich übergeben zu müssen. In dieser Haltung studierte ich eine ganze Weile das Stückchen Erde neben dem Wagen.
Als Polizei und Krankenwagen eintrafen, waren aus der Übelkeit schlimme Kopfschmerzen geworden.
Es dauerte alles eine Ewigkeit, die Fahrt nach Borna, das Röntgen, der Befund, die Halskrause, wieder Polizei, überall Herumsitzen, dann endlich per Taxi nach Altenburg. Taxen gibt es ja plötzlich wie Sand am Meer. Robert starrte entsetzt auf meinen Apollinaire-Turban und die Halskrause. Nicoletta ist mit demselben Taxi gleich weiter zum Bahnhof gefahren.
Sie wohnt in Bamberg. Jemand wie sie kann oder will nicht glauben, daß ich das Theater freiwillig verlassen habe. Sie hat viel für die Zeitung getan, 94 und da sie über De Chirico schreibt und Moritz von Schwind eines seiner Vorbilder gewesen sein soll, hatte ich ihr eine Besichtigung der Fresken in Rüdigsdorf vermittelt.
Über Barrista ein andermal. Dank seinen Stiefeln und Astrid, dem Wolf, gehört er schon zum Stadtbild. Er interessiert sich für alles und jeden und starrt den Frauen mit seinen Glupschaugen auf den Busen. Aber das »von« vor dem Namen, die Erbprinz-Mission und nicht zuletzt seine höfliche Aufmerksamkeit, zu der auch ein phänomenales Namensgedächtnis gehört, verfehlen nie ihre Wirkung. Gehört er in die Reihe Deiner unglücklichen Verehrer?
Ach, Verotschka, Liebste, wie lange noch dieses Warten?
Es küßt Dich
Dein Heinrich mit der Halskrause 95
Dienstag, 13. 3. 90
Liebe Nicoletta!
Es geht mir besser, viel besser; am Mittwoch will ich in die Redaktion, probeweise, für ein paar Stunden. Und Sie? Wie geht es Ihnen? Wenn ich einmal nicht an Sie denke, erschrecke ich, als hätte ich mein Portemonnaie verloren.
Eigenartigerweise sind Sie der einzige Mensch, dem gegenüber ich mich frei fühle, von meiner Vergangenheit zu sprechen und zu erklären, warum ich so geworden bin, wie ich bin. 96
Ich muß noch etwas vorausschicken.
Mein Vater ist Schauspieler gewesen – nicht mal ein mittelmäßiger, sonst hätte er bessere Rollen gehabt –, engagiert bei den Landesbühnen Sachsen. Er hatte einen Herzfehler und wußte, daß er kaum die 40 erreichen würde. Vielleicht wurde er deshalb zum Tyrannen. Er war besessen von der Idee, daß Vera, meine Schwester, eine begnadete Begabung sei, eine Schauspielerin, wie es nur eine in jeder Generation gebe – Vera war zwölf, als er starb.
Manchmal fürchte ich, sie glaubt bis heute, daß ihr nur der Vater zu einer großen Karriere gefehlt hat. Noch mit sechzehn, siebzehn gab sie mir die Schuld an seinem Tod (er sollte mich vom Hort abholen, war wie immer zu spät und lief vor ein Auto). Zudem behauptete er hartnäckig, er habe allein wegen des endlos langen Weges ein Zimmer in Radebeul gemietet. Dort hatten die Landesbühnen Sachsen ihr Stammhaus.
In Wahrheit lebte er mit einer Chorsängerin in diesem Zimmer und schlief nur bei uns, wenn meine Mutter Nachtdienst hatte. Die Sängerin bewunderte ihn im selben Maße, wie ihn meine Mutter einst bewundert hatte. Ihr konnte er wieder erzählen, daß er hoffe, auf der Bühne zu
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