Neue Leben: Roman (German Edition)
Barrista. Vielleicht fühlte Barrista sich betrogen, so eine Flasche wird nicht billig sein.
Georg, unser 56er, kostete den ihm zugedachten Barolo. Es dauerte eine Weile, dann sagte er: »Vielen Dank. Das war großartig!«
Es folgte ein über alle Maßen edles »Chateaubriand«, und zum Nachtisch gab es eine Schokoladencreme und einen italienischen Schnaps 82 .
Der Baron sprach ununterbrochen vom Erbprinzen, aber es gelang ihm nicht, seine Enttäuschung zu überspielen. Der Fehlschlag hatte die Atmosphäre verdorben.
Kurz vor zwölf verließen wir die honiggoldene Fürstensuite. Die Kellnerin begleitete uns mit dem Wolf, der ausgeführt werden mußte, nach unten. Auf der Straße fragte Jörg, was Barrista eigentlich von uns gewollt habe. Ich hingegen fragte mich mit Blick auf den vertrauten Bahnhof, wo wir eigentlich gewesen sind. Was sollte Barrista schon gewollt haben? Herausfinden, mit wem er es zu tun hat! Wenn sich nur jeder halb soviel Mühe dabei gäbe wie er!
Wir hatten uns schon getrennt, als mir einfiel, woher ich die Kellnerin kannte. Es war jene üppige Blondine, die uns im Januar aus der Bar entgegengestolpert war.
Dein E.
PS : Was ich Dir immer vergessen habe zu schreiben: Gesines musikalische Vorführung hat bei Robert so viel bewirkt, daß wir Tante Trockels Klavier nicht verkauft, sondern in sein Zimmer bugsiert haben. Robert nimmt tatsächlich Unterricht. Was die arme Tante Trockel nie geschafft hat, ist Gesine gelungen. Mal sehen, was daraus wird. Immerhin hat er schon ein paar Noten gelernt.
Donnerstag, 8. 3. 90
Liebe Nicoletta!
Seit Sie fort sind, habe ich nur an Sie gedacht. Ich mußte Sie mir nicht vorstellen. Sie waren da, und ich habe Ihnen zugehört. Allein der Schlaf unterbrach unser Zusammensein. Als ich erwachte, entschädigte mich eine ungeheure Freude für unsere Trennung: Es war kein Traum, Sie haben mich tatsächlich besucht. Ihre Gegenwart hat mich zur Besinnung gebracht. Lachen Sie nicht! So etwas schreibt sich nicht einfach dahin. Mit Ihnen bin ich glücklich gewesen! Mit Ihnen habe ich mich – ich finde keinen anderen Ausdruck dafür – in einem Zustand der Gnade befunden. Nicoletta, ich will Ihnen alles, alles sagen und alles auf einmal, und würde alle Worte dafür hergeben, wenn ich Sie sehen könnte.
Erinnern Sie sich, wie Sie – Sie hatten von Ihrem berühmten Onkel 83 erzählt, von den obskuren Umständen seines Todes, da sagten Sie, bei den wirklich wichtigen Sachen wisse man nie, was man eigentlich denken solle? Sie sagten es beiläufig und sprachen weiter. Ja, sagte ich, noch ganz bei diesem Satz, woraufhin Sie mich verwundert ansahen, und ich mich beherrschen mußte, Ihnen keinen Kuß zu geben.
Die Stunde, in der ich Sie noch in Altenburg wußte, ist so quälend gewesen. Sie hätten hier, in meinem Zimmer, warten sollen, selbst wenn wir nur geschwiegen hätten!
Das
wäre die richtige »Schonung« gewesen. Erst von dem Augenblick an, da ich glauben durfte, Sie hätten die Stadt verlassen, wurde ich ruhiger. Hoffentlich hatte der Zug keine Verspätung und Sie haben alle Anschlüsse erreicht.
Ist es im Korrekturraum 84 nicht wie in der Schule gewesen? Sie, die NEUE , sahen unschlüssig in die Klasse, als wüßten Sie nicht, wohin Sie sich setzen sollten. Und dann entschieden Sie sich für mich, für meine Bank, und streckten mir die Hand entgegen, als hätten Sie gerade in einem Reiseführer gelesen, daß man das im Osten so macht. Und während die anderen in der Pause herumliefen, blieben wir wie die Musterschüler sitzen. Die zunehmende Dichte Ihrer kalligraphischen Korrekturzeichen registrierte ich mit sinkendem Mut. Die Gänsehaut, die Ihren Arm bis an die Schulter überzog, die Narbe über Ihrem linken Ellbogen, haben mich immer wieder abgelenkt. Mir entging keine Regung Ihrer rechten Hand. Sie fragten nach dem Duden und korrigierten so konzentriert, als wollten Sie mir Zeit geben, mich an Ihre Gegenwart zu gewöhnen.
Mir erscheint es plötzlich so absurd, Ihnen zu schreiben, statt mich auf den Weg zu machen. Die einzige Entschuldigung könnte in meinem Zustand liegen. Aber ich habe kaum noch Schmerzen. 85
Ich küsse Ihre Hände
Ihr Enrico
Freitag, 9. 3. 90
Liebe Nicoletta!
Der erste Bus ist schon gefahren, bald werde ich Schritte über mir hören und all die Morgengeräusche. Mein Fenster steht einenSpalt offen. Wie geht es Ihnen? Ich möchte mit Ihnen sprechen. Bei der Vorstellung, daß Sie dieses Blatt erst in ein
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