Neue Leben: Roman (German Edition)
hat ebenfalls ein Duplo. Ich verstehe ihre Ausgelassenheit nicht. Das Duplo soll mich mit den Fremden versöhnen, die hier einziehen wollen. Ich bekomme ein kleines rotes Auto geschenkt. Zwischen Vorderrad und Fahrertür ragt ein helles Stäbchen heraus. Damit wird gelenkt. Die Scheinwerfer sind Glassteinchen, »Brillanten«, sagt meine Mutter, »aus dem Westen.«
Aus den Koffern werden immer neue Geschenke zutage gefördert und meiner Mutter gezeigt. Mein Opa kitzelt mit einem elektrischen Rasierapparat meinen Handteller. Alles kommt ausdem goldenen Westen. Ich überblicke den größten Teil des Zimmers, die Fremden verstecken sich. Sie flüstern mit meinem Opa.
Wieder im Bett, frage ich, ob die Fremden lange bleiben werden. Dabei bin ich mir sicher, daß sie bei uns einziehen wollen. Ich glaube meiner Mutter nicht.
Ich bin ängstlich, ich bin beeindruckt, Spielzeug mit Brillanten, wo die herkommen, ist die Welt aus Gold. Das ist auch der Grund, weshalb wir nicht in den Westen dürfen. Natürlich wollen alle lieber im Westen leben. Ich darf mit diesem Auto nicht draußen spielen, überhaupt dürfen andere Kinder nicht von diesem Auto erfahren. Sie werden sonst neidisch, weil sie selbst kein rotes Auto haben. Das rote Auto ist unersetzbar, das kann man nicht einfach kaufen. Bei uns haben nur wenige Kinder Matchbox-Autos und Legosteine und Kababüchsen. Ich hatte auch Hemden aus dem Westen und Hosen, und später würde ich genauso hübsch aussehen wie der Junge auf der Kinderschokolade. Eigentlich war auch ich ein Westkind.
Hören Sie mir überhaupt noch zu? Oder halten Sie mich nun für völlig verrückt? Lassen Sie es mich zu Ende erzählen! Von Jahr zu Jahr begriff ich besser: Wir besaßen Dinge, die andere Familien nicht hatten und nicht haben konnten, auch wenn sie diese noch so sehr begehrten und viel mehr verdienten als meine Mutter und mehr Geld auf dem Konto hatten als mein Opa. Die Westsachen waren wie Mondgestein, entweder wurden sie einem geschenkt, oder sie blieben unerreichbar. Mit den Verwandten im Westen war es genauso wie mit dem lieben Gott und dem Herrn Jesus, die hatten einen auch lieb, obwohl man sie gar nicht kannte und nie zu Gesicht bekam. Und wer mich wegen des lieben Gottes auslachte, beneidete mich zumindest um mein rotes Auto.
Fünf Tage im Jahr waren besonders: Nikolaus, Ostern, Geburtstag, Weihnachten – Weihnachten war die Krönung, doch die Steigerung von Weihnachten war jener Tag, an dem die Großelternvon ihrem Besuch aus dem Westen zurückkehrten. Der Abend ihrer Ankunft auf dem Neustädter Bahnhof in Dresden war der eigentliche, der nicht zu übertreffende heilige Abend.
Jedes Jahr nahm meine Mutter an diesem Tag frei, und wir durften zum Mittagessen nach Hause kommen. Nach den Hausaufgaben halfen wir ihr, wobei wir das Gefühl hatten, durch gründliches Staubwischen und ausgiebiges Schuhputzen die Anzahl der Geschenke zu vermehren.
In unseren besten Sachen ging es dann, schon im Dunklen, zur Straßenbahn.
Das Großartige, um nicht zu sagen: das Ungeheuerliche, lag in unserer Erwähltheit. Was lebten die anderen für ein Leben, in dem es nie einen Tag, einen Abend wie diesen geben würde? Ich bedauerte meine Mitschüler. Sie taten mir leid wie die Afrikaner, die sonnabends weder »sport aktuell« noch Berichte über die Vierschanzentournee sehen konnten.
In der Straßenbahn, in der uns die vielen freien Sitzplätze übermütig werden ließen, sahen wir wohl etwas herablassend auf die anderen Fahrgäste. Wir waren unerkannte Königskinder, und ich war glücklich, niemand anders als ich zu sein.
Dann begann das Hin und Her, auf welchem Bahnsteig der Zug einfahren sollte. Bei jedem Lautsprecherrasseln lauschten wir angespannt, um im blechernen Lallen die Silben »Be-bra« auszumachen. Und was wäre das Warten ohne Verspätungen gewesen, was die Herbstluft ohne den Dampf der Lokomotiven.
Es gab keine Enttäuschungen, es konnte gar keine geben, denn jedes Geschenk aus dem Westen war an und für sich unschätzbar. Was die Großeltern erzählten, lag außerhalb unserer Vorstellungskraft, zum Beispiel Rolltreppen, Rolltreppen in einem Kaufhaus. Man betritt einen Teppich, hält sich am reichverzierten Geländer fest und wird lautlos nach oben getragen, man schwebt wie ein Engel die Himmelsleiter hinauf.
Im Westen wurden die Straßen unterirdisch beheizt, die Tankstellen schlossen nie, und weil die Leute im Westen gar nicht mehr wußten, was sie noch schöner machen sollten,
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