Neue Leben: Roman (German Edition)
sterben, und sie tröstete ihn über die Hartherzigkeit meiner Mutter hinweg, die irgendwann gesagt haben soll, bei seinen Rollen werde das sowieso niemand merken und er möge endlich damit aufhören.
Ohne Photos wüßte ich wahrscheinlich gar nicht, wie mein Vater aussah, mit seinem merkwürdigen Lächeln, das er ganz in den linken Mundwinkel zog, weil er glaubte, das sei mephistophelisch. Vera – es gibt ein Photo, auf dem man das sieht – war bei der Beerdigung wie eine Erwachsene gekleidet, ganz in Schwarz. Geweint hat sie nicht oder nur, wenn sie allein war, so wie sie auch nicht mit uns sprach, sondern alles ihrem Tagebuch anvertraute. Niemand weiß, warum Vera meine Mutter abgelehnt hat, schon lange vor dem Unglück und vor der Pubertät. Dabei wurde Vera, solange ich denken kann, bevorzugt, was ich als natürlich empfand, weil Vera den Eindruck erweckte, sie hätte ihre Eltern verloren und müßte deshalb bei uns wohnen, wohingegen ich ja meine Mutter hatte. Unsere Mutter arbeitete sich an der Prophezeiung ihres Mannes ab und tat alles, damit aus dem erfolgreichen Dresdner »Sprecherkind« Vera Türmer eine Bühnendiva, eine Dietrich werde.
Obwohl meine Mutter eine wirklich gute OP -Schwester war und ist und Gott sei Dank keine künstlerischen Ambitionen hegte, galten bei uns die sogenannten ordentlichen Berufe nichts. Auf unseren Spaziergängen in der Dresdner Heide war immer von Mozart die Rede, den sie in einem Armengrab verscharrt hatten, von Hölderlin, der verrückt geworden war, von Kleist, dem Selbstmörder, von Beethoven, den das Publikum ausgelacht hatte. War nicht jedes wahre Genie verspottet worden, hattensie nicht alle furchtbar gelitten – ausgenommen Goethe –, und hatten sie nicht trotzdem etwas geschaffen, wofür ihnen die Menschheit heute unendlich dankbar ist? Aus Dunkelheit durch Kampf zum Licht!
Die Erfahrungen mit meinem Vater änderten daran nichts, im Gegenteil, meine Mutter schraubte ihre Vorstellung von Genie und Werk nur um so höher. Mit anderen Worten: Wären meine Eltern mit ihrem Leben halbwegs zufrieden gewesen, hätten sie uns, besonders aber meiner Schwester, einiges erspart.
Ich teile Ihnen das allein aus Gründen der Vollständigkeit mit, es erklärt alles und nichts.
Ich will Ihnen ja nicht mein Leben erzählen, sondern allein jener Spur folgen, jenem Pfad, auf dem ich so jämmerlich in die Irre gegangen bin und den zu beschreiben am Ende eine Art Geschichte ergeben könnte, eine böse Geschichte, jedoch als abschreckendes Beispiel vielleicht nicht ohne Nutzen. 97
In den Sommerferien der siebenten Klasse, ich war ein Jahr später als mein Jahrgang eingeschult worden, also immerhin fast vierzehn, verbrachte ich gemeinsam mit meiner Mutter drei Wochen in einem Bungalow. Der stand mitten im Kiefernwald in der Nähe eines klaren Sees, in Waldau im Südosten Berlins.
Das kleine Anwesen gehörte einem kinderlosen Ehepaar aus Jüterbog, Freunden meines Vaters, die im Sommer nach Bulgarien oder Ungarn fuhren und uns eine nicht ganz uneigennützige Treue bewahrten. Meine Mutter, die für unseren Aufenthalt zahlte, war es auch, die die Dachrinne säuberte, Gardinen wusch, Teppiche klopfte, mit dem Leiterwagen zum Altstoffhandelfuhr, die Propangasflasche nachfüllen ließ, die Grubenentleerung bestellte und selbst kleine Verbesserungen veranlaßte, wie die Installation eines Außenlichtes – sie wollte kein zweites Mal auf eine Kröte treten.
Da es im Bungalow keinen Fernseher gab, fürchtete ich die Langeweile bereits vor der Abfahrt. Langeweile bestimmte überhaupt mein Leben. Ich langweilte mich täglich, obwohl ich dreimal pro Woche zum Sportschießen fuhr (ich galt bei »Olympisch Schnellfeuer« als nicht unbegabt).
Es gibt ein Photo, auf dem ich in Waldau mit krummem Rücken, starrem Blick und kurzen Hosen am Tisch sitze und mich an den Waden streichle. Ich weiß noch genau, woran ich im Moment der Aufnahme dachte, nämlich an die neue Oberliga-Saison, sah Dynamo Dresden Spiel um Spiel gewinnen und mit einer makellosen Bilanz Meister und Pokalsieger werden.
Im Kindergarten hatte ich Lesen für eine Art Zauberei gehalten, die man ab einem bestimmten Alter ganz selbstverständlich beherrscht. Doch im selben Moment, da ich begriff, daß es sich beim Lesen um eine ebenso mühsame wie eintönige Buchstaben- und Silbenzusammenzieherei handelte, war es ein ödes Schulfach geworden.
Deshalb war die Frage meiner Mutter, welche Bücher sie für den Urlaub einpacken
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