Neue Leben: Roman (German Edition)
Platz blieben. Als Hendrik hineinfahren wollte, sich dazu hinsetzte und einen Schuh hochhob, ergoß sich ein Schwall Wasser über seine bestrumpften Füße – und auch ich stand in einer Pfütze, was für zusätzlichen Jubel sorgte. Und nun hatten sich diese Schuhe bei uns eingeschlichen, sie waren bis in mein Zimmer vorgedrungen, die Absätze scheuerten an meiner Liege.
»Amen«, sagte Hendrik. Seine Hände blieben über der aufgeschlagenen Bibel gefaltet. Er beäugte mich mit schiefgelegtem Kopf, als sei nun ich an der Reihe. »Amen«, sagte ich und sah schon wieder auf seine Schuhe.
Da ich nicht weiterwußte und ihn schlecht bitten konnte, sein Gebet zu wiederholen, schlug ich einen Spaziergang vor. Sofort willigte er ein. Vorher mußte ich mit der Zange zurück in die Küche. Haben Sie je Pute gebraten? Meine Aufgabe bestand darin, die von meiner Mutter freigelegten Sehnen mit der Zange zu fassen und herauszuziehen, während meine Mutter das kopflose Vieh festhielt. Das Fleisch an den Schenkeln rutschte hoch und bildete lächerliche Pumphosen. Jeder Schenkel besitzt mehrere dieser Sehnen, und obwohl ich meine Mutter, begleitet von ihrem Aufschrei, fast über den Tisch zog, gelang es uns nie, der Pute alle Sehnen zu entreißen. Hendrik stand dabei, schon wieder verpackt wie ein Räuchermännchen, lächelte ins Leere und verabschiedete sich von meiner Mutter mit tiefem Diener.
Auf dem Spaziergang gab Hendrik keinen Augenblick Ruhe. Er begehrte zu wissen, wie oft ich bete, was ich mir dabei vorstelle, was ich tue, wenn ich spürte, daß ich jemanden nicht nur nicht lieben, sondern nicht leiden könne, und ob der Wunsch nach ewigem Leben egoistisch sei oder nicht. Hendrik erging sich in Auslegungen und Vorschlägen, bei denen er nicht wie bisher von »den Christen« sprach, sondern statt dessen ein
wir
gebrauchte, das ich anfangs als
ihr
mißverstanden hatte, bis es keinen Zweifel mehr geben konnte, daß
wir
jetzt keine Angst mehr vor dem Tod haben müßten und
wir
uns grundsätzlich anders als andere zu verhalten hätten. Seine Bekehrung war offensichtlich, doch weil ich ganz und gar davon überzeugt sein wollte, die Frage direkt zu stellen allerdings als unangemessen empfand, dehnte ich unseren Spaziergang immer weiter aus. Erst auf dem Rückweg, wir gingen am Gemeindehaus vorüber, erhieltich Gewißheit. Im Erdgeschoß klebte ein Plakat im Fenster: »Gottes Wort lebt. Durch Dich!« Es bezog sich auf eine Spendenaktion, mir aber schien, Jesus selbst habe das für mich geschrieben. Ich lächelte etwas verlegen und sah zu Boden, weil ich einen Ausbruch des Staunens, sogar der Bewunderung bei Hendrik erwartete. War es denn kein Wunder, jetzt und hier dieser Spruch?! Doch Hendrik übersah das Plakat oder bezog es nicht auf uns, was aber nichts an meiner Gewißheit änderte, eine Seele gerettet zu haben und ein wahrer Menschenfischer geworden zu sein. Ich verabschiedete mich von Hendrik. Mit seinem Besuch habe er mir das schönste Weihnachtsgeschenk gemacht. Wir gaben einander die Hand – seine Mutter hatte ihn zu diesem übertrieben festen Händedruck erzogen. Ich wollte mich schon abwenden, als sich Hendriks Oberkörper vorbeugte. Ich hielt es für einen Diener, bis seine Stirn meine Schulter berührte. Das war genau der Augenblick, in dem all meine Euphorie verflog. Ich begriff, Hendrik von nun an am Hals zu haben.
Ich schildere Ihnen das nicht um seiner selbst willen, da gäbe es anderes zu erzählen, sondern weil dieses Erlebnis zum Stoff meiner ersten Erzählung werden sollte.
Die breite Feder des Füllers, der sich wunderbarerweise zwischen den Süßigkeiten in Tante Camillas Paket gefunden hatte, verlieh meiner Handschrift etwas Regelmäßigkeit, das Schreiben, ich meine die Bewegung der Hand, der Anblick der Schwünge befriedigte mich in ungekannter Weise.
Der neue Füller beschleunigte meine Gedanken, nach drei Seiten war ich bereits bei unserem gemeinsamen Gebet angelangt. Und plötzlich – eben war ich mir noch sicher gewesen, der Schwung meines Schreibens würde mich unbemerkt über diese Klippe hinwegtragen – lähmte mich die Erinnerung an meine Abschweifung, an diese Sünde, da ich, statt um Hendriks Bekehrung zu beten, an seine Schuhe und die Hänseleien gedachthatte. Wenn ich es nicht einmal vermochte, einem um sein Heil ringenden Menschen beizustehen … Ich schraubte den Füller zu. Dabei hielt ich die Kappe in der Linken, drehte den Füller dreimal und legte ihn, mein Werkzeug, parallel
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